"Gesagt ist nicht getan"

Berliner Gesundheitspreis 2008/09

Plakat: Berliner Gesundheitspreis 2008/09

(21.04.09) In Berlin ist am 20. April der mit insgesamt 50.000 Euro dotierte Berliner Gesundheitspreis 2008  an Projekte verliehen worden, die eine partnerschaftliche Kommunikation zwischen Arzt und Patient fördern. Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt würdigte beim Festakt die Preisträger des Wettbewerbs zum Thema "Adherence". "Das gemeinschaftliche Miteinander von Patienten und Therapeuten ist die Zukunft" sagte die Ministerin.

Die Gewinner haben Lösungen entwickelt, die Patienten aktiv an Therapieentscheidungen beteiligen und ihre Eigenverantwortung stärken. Denn eine über den Kopf des Patienten hinweg gegebene Therapieempfehlung wird oft nicht durchgehalten. Gesagt ist eben längst noch nicht getan: Therapieabbrüche, gescheiterte Änderungen des Lebensstils und weggeworfene Arzneimittel im Wert von bis zu 20 Milliarden Euro sprechen eine deutliche Sprache. Damit sich das ändert, müssen Arzt und Patient zusammen über die Behandlung entscheiden und Verantwortung für den Behandlungsverlauf übernehmen. Die gemeinsame Entscheidung erhöht nachweislich die Therapietreue und trägt so zu mehr Gesundheit bei.

Die Preisträger wurden aus insgesamt 68 Einsendungen von einer elfköpfigen Jury aus Politik, Wissenschaft und Praxis ausgewählt. Initiatoren des Berliner Gesundheitspreises sind der AOK-Bundesverband, die Ärztekammer Berlin und die AOK Berlin. Der Preis wurde zum siebten Mal verliehen. Mit dem 1995 ins Leben gerufenen Wettbewerb fördern AOK und Ärztekammer innovative Modelle und zukunftsweisende Versorgungskonzepte, die dazu beitragen,  Qualität und Wirtschaftlichkeit der gesundheitlichen Versorgung in Deutschland zu verbessern. 

Der Berliner Gesundheitspreis 2008 widmet sich dem Thema Adherence. Der Begriff ist im öffentlichen Sprachgebrauch bislang weitgehend unbekannt. Dahinter steht ein innovativer Ansatz. Zentrales Element ist die partnerschaftliche Kommunikation zwischen Arzt und Patient mit dem Ziel, die Therapiemotivation zu erhöhen.

Immer mehr Patienten informieren sich über ihre Krankheiten. Sie wollen mit dem Arzt gemeinsam entscheiden, wie eine Therapie auf ihre individuellen Bedürfnisse und Lebenssituation zugeschnitten werden kann. Nicht zuletzt erhöht das gemeinsame Vorgehen die Motivation zur Therapietreue.

Und auch Ärzte, Therapeuten und Pflegekräfte wollen ihre Patienten in die Lage versetzen, sich aktiv in den Therapieprozess einzubringen. Drehtüreffekte oder unnötige Patientenkarrieren durch fehlende oder nicht ausreichende Kommunikation und Abstimmung empfinden viele Ärzte und Therapeuten im Arbeitsalltag als unbefriedigend. Im Endeffekt heißt das: Arzt und Patient wollen gemeinsam Verantwortung für die Behandlung übernehmen. Erste Studien belegen, dass gemeinsam getroffene Therapieentscheidungen zu mehr Gesundheit beitragen.

Nach Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezeichnet "Adherence" das Ausmaß, in dem das Verhalten einer Person, Medikamente einzunehmen, eine Diät durchzuführen und/oder Änderungen von Lebensgewohnheiten vorzunehmen, mit der Zustimmung zu den Empfehlungen des medizinischen Fachpersonals korrespondiert. Im Unterschied zum geläufigeren Begriff "Compliance" betont "Adherence" stärker das aktive partnerschaftliche Verhältnis zwischen Arzt und Patient und eine notwendige Zustimmung zu den Empfehlungen.

Darum geht es:

Aus Sicht des Patienten ist es das Ziel seiner medizinischen Behandlung, ein möglichst optimales Ergebnis zu erreichen. Dazu gehört, dass der Patient unter der Berücksichtigung seiner eigenen Präferenzen der Therapie bewusst zustimmt und damit auch selbstverantwortlich zu ihrem Erfolg beiträgt. Therapien und Verhaltensweisen können dies unterstützen, wenn der Arzt die konkrete Lebenssituation und persönlichen Wünsche des Patienten in seine Therapieentscheidungen einbezieht. Um die Therapietreue und das Durchhaltevermögen - die sogenannte Adherence - des Patienten zu stärken, ist ein partnerschaftlicher Kommunikationsstil zwischen Arzt und Patient erforderlich. Dies entspricht jedoch noch längst nicht dem medizinischen Alltag.

Die auf eine ausgeprägte Adherence ausgerichtete Behandlung sucht mit dem Patienten gemeinsam aus verschiedenen Therapieoptionen die für ihn persönlich am besten geeignete heraus. Dazu muss der Patient zunächst in einer verständlichen Sprache über seine Krankheit und über die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten sowie über die damit verbundenen Belastungen aufgeklärt werden. Daraus sollte gemeinsam ein individuelles Therapiekonzept entwickelt werden, das dem Patienten ermöglicht, die Therapie erfolgreich durchzuhalten.

Einige Beispiele:

  • Einem Patienten, der beruflich viel unterwegs ist und einen unregelmäßigen Tagesablauf hat, fällt es schwer, Medikamente über den Tag verteilt zu exakten Zeitpunkten einzunehmen. Sein Arzt stellt ihm deshalb andere Therapieoptionen vor. Als Alternative könnte er das Arzneimittel in einer etwas anderen Dosierung zu weniger Einnahmezeitpunkten oder ein Retardmedikament einnehmen. Der Patient muss abwägen, ob damit einhergehende Nebenwirkungen von ihm als weniger belastend erlebt werden als die Einhaltung der exakten Einnahmezeitpunkte bei anderer Dosierung. Auch eine Tablettenbox für unterwegs kann bereits eine große Wirkung erzielen und die regelmäßige Einnahme erleichtern.'
  • Ein Patient mit hohem Blutdruck erlebt seine Medika menteneinnahme als belastend, weil damit unmittelbar nach der Einnahme Nebeneffekte wie Müdigkeit und Abgeschlagenheit auftreten. Auch anderen Medikamenten steht er ablehnend gegenüber. Der Arzt überlegt mit ihm gemeinsam, statt eines Blutdrucksenkers ein Bewegungsprogramm zu organisieren und ihn für eine salz- und fettarme Ernährung zu motivieren.
  • Einem Patienten gelingt es nicht, regelmäßig und organisiert Sport zu treiben, obwohl dies dringend geboten ist. Eine Physiotherapeutin entwickelt mit ihm gemeinsam ein Konzept, wie sich mehr Bewegung in seinen Tagesablauf integrieren lässt.
  • Einer übergewichtigen Patientin fällt das medizinisch dringend erforderliche Abnehmen schwer. Gemeinsam mit ihrem Hausarzt und einer mit diesem zusammenarbeitenden Selbsthilfegruppe entwickelt sie einen Ernährungsplan, der ihre Lebensumstände berücksichtigt. Es werden Etappenziele vereinbart und regelmäßig kontrolliert.

Immer stehen im Zentrum der Zusammenarbeit Verhaltensvereinbarungen, für die der Patient die Verantwortung übernimmt und die gemeinsam mit dem Arzt oder Therapeuten kontrolliert werden

  • Die Beschreibung der Ziele und deren Erreichung ist verständlich, nachvollziehbar und aussagekräftig.
  • Die beschriebenen Projekte, Konzepte und Verfahren sind praktisch erprobt oder es wird die Praxistauglichkeit plausibel gemacht sowie deren Wirtschaftlichkeit nachgewiesen.
  • Die Aufbereitung von Patienteninformationen wird beschrieben sowie deren wirkungsvolle Vermittlung dargelegt.
  • Die beschriebenen Verfahren tragen zu einer Veränderung des Lebensstils und Motivation einer gesundheitsfördernden und an die Krankheit angepassten Lebensweise bei.
  • Die Stärkung der Patientensouveränität/eine Integration in den Behandlungsprozess wird beispielhaft  beschrieben.
  • Die Konsequenzen für die Kommunikation mit den Patienten werden veranschaulicht.
  • Das Vorgehen und die Entscheidungsprozesse werden dokumentiert und überprüft.
  • Es wurden Kriterien zur Messung/Beurteilung von Ergebnissen entwickelt.
  • Dr. Günter Egidi
    Facharzt für Allgemeinmedizin, Hausarzt in Bremen, Preisträger des Berliner Gesundheitspreises 2004
  • Dr. Hans Georg Faust
    CDU-Bundestagsabgeordneter und stellvertretender Vorsitzender des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages
  • Dr. Leonard Hansen
    Vorsitzender des Vorstands der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein
  • Dr. Volker Hansen
    alternierender Vorsitzender des Aufsichtsrats der AOK Berlin
  • Dr. Günther Jonitz
    Präsident der Ärztekammer Berlin
  • Helga Kühn-Mengel
    Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten
  • Wolfgang Metschurat
    alternierender Vorsitzender des Verwaltungsrates der AOK Berlin
  • Prof. Dr. Norbert Schmacke
    Leiter der Arbeits- und Koordinierungsstelle Gesundheitsversorgungsforschung an der Universität Bremen
  • Fritz Schösser
    alternierender Vorsitzender des Aufsichtsrats des AOK-Bundesverbandes
  • Prof. Dr. Ulrich Schwantes
    Facharzt für Allgemeinmedizin und Psychotherapie am Institut für Allgemeinmedizin der Charité Berlin
  • Dr. Marlies Volkmer
    SPD-Bundestagsabgeordnete, Mitglied im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages
  • Gesagt ist nicht getan
    szenische Darbietung
  • Was bedeutet Adherence?
    Prof. Dr. med. Norbert Schmacke
    Leiter der Arbeits- und Koordinierungsstelle Gesundheitsversorgungsforschung, Universität Bremen, Mitglied der Jury des Berliner Gesundheitspreises
  • Arzt und Patienten in gemeinsamer Verantwortung
    Film zu den Preisträgern und ihren Projekten
  • Souveräne Patienten entscheiden mit
    Würdigung der Preisträger und ihrer Projekte durch Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt
  • Verleihung des Berliner Gesundheitspreises durch
    Prof. Dr. med. Ulrich Schwantes (Facharzt für Allgemeinmedizin und Psychotherapie, Mitglied der Jury),
    Dr. med. Günther Jonitz (Präsident der Ärztekammer Berlin),
    Werner Felder (Vorstandsvorsitzender der AOK Berlin) und
    Dr. Herbert Reichelt (Vorsitzender des Geschäftsführenden Vorstands des AOK-Bundesverbandes).

Glossar: Adherence und Compliance

Adherence oder Adhärenz bezeichnet das Ausmaß, in dem das Verhalten eines Patienten mit den Behandlungszielen und -wegen übereinstimmt, die er zuvor mit dem Arzt gemeinsam beschlossen hat. Der Begriff Adherence trägt dem veränderten Rollenverständnis zwischen Arzt  und Patient Rechnung, indem er eine partnerschaftliche Verständigung über Art und Umfang der Therapie voraussetzt und den Patienten eine aktive und eigenverantwortliche Rolle in der Therapie zubilligt. Der Begriff ersetzt zunehmend den älterenBegriff Compliance, dem eine asymmetrische Arzt-Patienten-Beziehung zugrunde liegt.

Compliance bedeutet schlicht "Folgsamkeit". Üblicherweise wird mit diesem Begriff die Bereitschaft eines Patienten bezeichnet, ärztliche Anweisungen, beispielsweise bei der Medikamenteneinnahme oder dem Einhalten einer Diät, konsequent zu befolgen. Bei dieser Betrachtungsweise wird dem Patienten die alleinige Verantwortung für den Behandlungserfolg aufgebürdet.

(Quelle: G+G-Spezial Berliner Gesundheitspreis 2008)