Dossierstempel

Der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA)

Seit Anfang 2009 orientiert sich der Risikostrukturausgleich (RSA) zwischen den gesetzlichen Krankenkassen auch am Krankheitszustand, der Morbidität, der Versicherten. Mit Einführung dieses sogenannten morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA) ist der 1994 eingeführte Finanzausgleich auf eine neue Grundlage gestellt worden. Ziel des Morbi-RSA ist, dass die Beitragsgelder dorthin fließen, wo sie zur Versorgung Kranker benötigt werden. Das war mit dem vorherigen, 1994 eingeführten RSA nur ungenügend erreicht worden. 

Der Morbi-RSA ist eine unverzichtbare Bedingung für den Wettbewerb zwischen den Krankenversicherern um Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung von Kranken. So werden bei der Verteilung der Gelder aus dem Gesundheitsfonds an die einzelnen Krankenkassen durch Zu- und Abschläge die Merkmale Alter, Geschlecht und die Krankheitslast der Versicherten berücksichtigt.

Bis 2020 wurden im Morbi-RSA 80 chronische und schwerwiegende Krankheiten berücksichtigt. Nach einer Reform im Gesetz für einen fairen Kassenwettbewerb in der GKV (GKV-FKG) werden seit dem Jahr 2021 in einem sogenannten Vollmodell alle Krankheiten in den Morbi-RSA einbezogen. Krankenkassen, deren Leistungsausgaben für bestimmte Versicherte über 100.000 Euro liegen, werden seitdem über einen Risikopool entlastet. Zudem erhalten die Kassen für jeden Versicherten eine Vorsorgepauschale - beispielsweise für eine Mutterschaftsvorsorge- oder Früherkennungsuntersuchung und Schutzimpfungen. Außerdem gibt es regionale Zuschläge, um Kostenunterschiede - gemessen auf Kreisebene - zu berücksichtigen. Alle vier Jahre evaluiert der Wissenschaftliche Beirat des Bundesamtes für Soziale Sicherung (BAS), ehemals Bundesversicherungsamt, ob und wie der Finanzausgleich wirkt. Der Anspruch eines Versicherten auf Krankengeld wird künftig als Risikomerkmal berücksichtigt. Die Erwerbsminderungsrente ist kein Risikomerkmal mehr.

Eine "Manipulationsbremse" soll Kodierbeeinflussungen unterbinden: Steigen bei bestimmten Krankheiten die Diagnosekodierungen und somit die entsprechenden hierarchisierten Morbiditätsgruppen (HMGs) besonders auffällig, können die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds an die Kassen für die fünf Prozent der umsatzstärksten aller HMG komplett gestrichen werden.

Basis der Reform bildet das "Gesetz für einen fairen Kassenwettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung" (Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz/GKV-FKG). Die Änderungen im Finanzausgleich der Kassen basieren vor allem auf zwei Gutachten, die der Wissenschaftliche Beirat erstellt hat. Zusätzlich war eine Organisationsreform der Krankenkassen vorgesehen, deren Kernpunkt die bundesweite Öffnung aller derzeit regionalen Krankenkassen war. Ende März 2019 hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn einen ersten Entwurf noch unter dem Titel "Gesetz für eine faire Kassenwahl in der gesetzlichen Krankenversicherung" vorgelegt. Die AOK hatte für die Verbändeanhörung zu diesem Referentenentwurf eine detaillierte Stellungnahme vorgelegt. Im Oktober 2019 hat das Bundeskabinett dann den Entwurf für ein "Gesetz für einen fairen Kassenwettbewerb in der GKV" beschlossen. Darin waren zahlreiche Änderungen gegenüber dem Referentenentwurf enthalten. Unter anderem wurde die bundesweite Öffnung aller Kassen nach scharfer Kritik insbesondere aus den Bundesländern wieder zurückgenommen.

GKV-FKG: Die Stellungnahme der AOK zum Referentenentwurf

 

Sondergutachten zur Weiterentwicklung des Morbi-RSA 2017

Mit Inkrafttreten des GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts- Weiterentwicklungsgesetzes 2015 hat sich die Konstruktion der kassenindividuellen Zusatzbeiträge geändert. Seitdem können die Kassen, die mit den Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds nicht auskommen, einen prozentualen Zusatzbeitrag anstelle der vorherigen absoluten Zusatzprämie erheben. Seit 2018 wird auch dieser Zusatzbeitrag je zur Hälfte von Arbeitgebern und Versicherten gezahlt. Mit Einführung des prozentualen Zusatzbeitrags ist unter den Krankenkassen eine Debatte um die Ursachen für unterschiedlich hohe Zusatzbeiträge entstanden, in deren Verlauf Kassen und auch Kassenverbände eine Reform des Morbi-RSA forderten. 

Das Bundesgesundheitsministerium hat Ende 2016 beim Wissenschaftlichen Beirat des Bundesversicherungsamtes (BVA) eine umfassende Evaluation zur Wirkung des Morbi-RSA und der verschiedenen Reformvorschläge in Auftrag gegeben, die zweite wissenschaftlich unabhängige Untersuchung seit 2009. In dem Gutachten hat der Beirat Kritikpunkte der Krankenkassen sowie eine umfassende Vorschlagsliste zur Änderung des Morbi-RSA untersucht. Die Krankenkassen konnten in einem öffentlichen Anhörungsverfahren eigene Vorschläge für die wissenschaftliche Analyse einbringen. Mit Professor Achim Wambach war auch der Vorsitzende der Monopolkommission an der Untersuchung beteiligt.

Bei der Vorstellung der Ergebnisse Mitte Oktober 2017 betonten die Experten ihre große Einigkeit. Zentrale Funktion des Morbi-RSA sei die Vermeidung von Risikoselektion. Dieses Ziel werde umso besser erreicht, je höher die Zielgenauigkeit der Zuweisungen auf Ebene der Individuen, von Versichertengruppen und Krankenkassen sei. Perspektivisch empfiehlt der Beirat die Berücksichtigung aller Krankheiten und nicht nur wie heute einer bestimmten Auswahl von 80 Krankheiten. Die Wissenschaftler stellten fest, dass der Morbi-RSA in seiner bisherigen Form gut funktioniert.

Gleichzeitig markieren sie an einigen Stellen Weiterentwicklungsbedarf. Wichtig ist dem Beirat, dass für die Bewertung der Zielgenauigkeit und der Weiterentwicklung des Morbi-RSA die Reduzierung der Risikoselektionsanreize auf Ebene der Versicherten, von Versichertengruppen und der Krankenkassen als Maßstab definiert ist. Beitragssatzunterschiede in der GKV oder Deckungsgraddifferenzen zwischen Kassenarten hält das Expertengremium dagegen für ungeeignet.

AOK fordert Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs

In der Debatte um den RSA hatte die AOK-Gemeinschaft bereits im Vorfeld des Sondergutachtens konkrete Vorschläge zur Weiterentwicklung des Ausgleichssystems veröffentlicht. Jede Änderung müsse die Zielgenauigkeit des RSA erhöhen, Risikoselektion verringern und Wirtschaftlichkeitsanreize stärken, erklärten die elf AOKs und der AOK-Bundesverband in einem Positionspapier, das am 21. Oktober 2016 vorgestellt wurde. Mit diesen Prüfkriterien müsse schnellstmöglich eine Gesamtuntersuchung durch den Wissenschaftlichen Beirat des Bundesversicherungsamts (BVA) auf vollständiger Datengrundlage starten. Als Sofortmaßnahme fordert die AOK die Einführung von "verbindlichen, bundeseinheitlichen Kodierrichtlinien für die ambulante Versorgung".

BVA-Präsident: Der Morbi-RSA hat sich bewährt

"Der Morb-RSA hat sich bewährt", konstatierte der Präsident des Bundesversicherungsamts, Frank Plate, bereits in der Juniausgabe 2016 des AOK-Forums "Gesundheit und Gesellschaft" (G+G). Der Morbi-RSA erfülle bisher die ihm zugewiesene Funktion, erklärte er selbstbewusst im G+G-Interview. Damit schließt der BVA-Chef nicht aus, dass es nicht auch besser ginge, und verweist auf die Gutachten zu den Auslandsversicherten und zum Krankengeld vom Dezember 2015 und vom Mai 2016. "In beiden Fällen muss geprüft werden, ob Folgegutachten notwendig sind. Die jetzige Datenbasis reicht möglicherweise nicht aus, um Klarheit darüber zu erhalten, was geändert werden sollte", so Plate.

Jedes Jahr prognostiziert der GKV-Schätzerkreis die finanzielle Entwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung. Genauer: die beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder, die Einnahmen aus dem Gesundheitsfonds, die Ausgaben der Krankenkassen sowie die Zahl der Versicherten und Mitglieder in der GKV. Zum Schätzerkreis gehören Fachleute des Bundesgesundheitsministeriums, des BVA und des GKV-Spitzenverbandes. Den Vorsitz hat ein Vertreter des BVA. Weitere Experten können hinzugezogen werden.


Politisches Stichwort des AOK-Radioservice

Wie funktioniert der Morbi-RSA? (Info des Bundesversicherungsamts)

ams-Thema 01/18: Weiterentwicklung des Morbi-RSA

ams-Thema 01/18: Weiterentwicklung des Morbi-RSA
mit umfangreicher Analyse der Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesversicherungsamt zur Weiterentwicklung des Morbi-RSA und seiner Regionalisierung (07.11.18)

ams-Extra 01/15 Morbi-RSA

ams-Extra 01/15 Morbi-RSA
unter anderem mit einem Interview mit WIdO-Geschäftsführer Prof. Dr. Klaus Jacobs (27.05.15)

Warum braucht man einen Morbi-RSA?

Warum braucht man einen Morbi-RSA?
Eine Bestandsaufnahme des AOK-Bundesverbandes (Stand Februar 2011)

Positive Zwischenbilanz

2011 hat der Wissenschaftliche Beirat des Bundesversicherungsamts im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums in einem Gutachten die Auswirkungen des Morbi-RSA im Startjahr 2009 untersucht. Der Beirat kommt zu dem Schluss, "dass der neue RSA zielgenauer als der bis 2008 geltende Alt-RSA wirkt und die Berücksichtigung der Morbidität der Versicherten zu einer deutlichen Verbesserung bei der Deckung der durchschnittlichen Leistungsausgaben der Krankenkassen geführt hat". Allerdings mahnten die Wissenschaftler in ihrem Gutachten Korrekturen bei der Berechnung der Ausgaben für Versicherte an, die im Jahresverlauf versterben. Am 4. Juli 2013 entschied das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen, dass dieser Berechnungsfehler korrigiert und das Jahresausgleichsverfahren des Bundesversicherungsamts für 2013 neu berechnet wird. Mehrere Krankenkassen unterschiedlicher Kassenarten hatten vor dem LSG wegen des Berechnungsfehlers geklagt.

Auch nach Einschätzung der AOK hat der Morbi-RSA die Anreize zur Risikoselektion im Wettbewerb zwischen den Krankenkassen verringert. Das Defizit, das Kassen für die medizinische Versorgung von Kranken finanzieren müssen, ist für 80 Erkrankungen deutlich verringert worden. Der Wettbewerb zwischen den Kassen konzentriert sich jetzt stärker auf die Qualität und Wirtschaftlichkeit der medizinischen Versorgung.

Karlsruher Urteil: Verfassungskonforme Regelung

Die Verfassungsmäßigkeit des Morbi-RSA ist inzwischen mehrmals gerichtlich bestätigt worden. Bereits urteilte das Bundesverfassungsgericht: "Der Risikostrukturausgleich verwirklicht den sozialen Ausgleich in der gesetzlichen Krankenversicherung im Einklang mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Artikels 3, Absatz 1 GG kassenübergreifend und bundesweit", so die obersten Verfassungshüter.
 Im Mai 2014 bestätigte das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel nochmals die Verfassungsmäßigkeit des Morbi-RSA.

  Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Urteil des Bundesverfassungsgerichts
zur Verfassungsmäßigkeit des Risikostrukturausgleichs vom 18.07.05

  "Regelungen des Risikostrukturausgleichs verfassungsgemäß"

"Regelungen des Risikostrukturausgleichs verfassungsgemäß"
Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts vom 31.08.05

Erfahrungen im Ausland

Auch in anderen europäischen Staaten werden Ausgleichssysteme genutzt, um Risikoselektion in den jeweiligen wettbewerblichen Gesundheitssystemen zu verhindern. Hierzu zählen die Niederlande. Das niederländische Gesundheitsministerium erläutert in einer auch auf Deutsch erschienenen Publikation Funktionsweise und Zweck des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs. So heißt es darin:

"Der Risikostrukturausgleich verhindert nicht nur eine Risikoselektion, sondern fördert auch einen ehrlichen Wettbewerb der Krankenversicherungen. Ein Versicherer mit verhältnismäßig vielen Versicherten mit einem ungünstigen Risikoprofil befindet sich gegenüber seinem Konkurrent mit Versicherten mit einem überwiegend günstigen Gesundheitsprofil im Nachteil. Durch den Risikostrukturausgleich gelten für alle Krankenversicherungsgesellschaften die gleichen Ausgangsbedingungen, ungeachtet der Zusammensetzung ihres Versichertenbestandes."

Der RSA war 1994 eingerichtet worden, um die Voraussetzungen für einen Wettbewerb zwischen den Krankenkassen ab 1996 zu schaffen. Damit sollten die unterschiedlichen Versichertenstrukturen der einzelnen Kassenarten ausgeglichen werden. In der RSA-Reform 2002 war die Einführung des Morbi-RSA für 2007 vorgesehen. Im Zuge des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes wurde der Termin auf 2009 verschoben.

Zur Geschichte des RSA

Zuletzt aktualisiert: 25-02-2020