Lesedauer: 5 Minuten
Krebs-Früherkennung: "Bei den Teilnahmeraten ist noch viel Luft nach oben"
ams-Interview mit Dr. Gerhard Schillinger, Leiter des Stabs Medizin im AOK-Bundesverband

Dr. Gerhard Schillinger
21.10.21 (ams). In der Corona-Pandemie haben manche Untersuchungen zur Früherkennung von Krebs nicht wie vorgesehen stattgefunden. Ein Teil der Menschen hat im vergangenen Jahr den Gang zum Arzt aus Angst vor einer Infektion gescheut. Aber auch schon vor Corona waren die Teilnahmerzahlen bei der Krebsvorsorge nicht immer befriedigend. Das zeigen Datenauswertungen des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO). "Mit den Daten, wie viele der Versicherten in diesen zehn Jahren die Krebs-Früherkennungsuntersuchung wie häufig wahrgenommen haben, lässt sich eine recht gute Aussage über die Regelmäßigkeit der Teilnahme treffen", sagt der Leiter des Stabs Medizin im AOK-Bundesverband, Dr. Gerhard Schillinger, im Gespräch mit dem AOK-Medienservice. Sein Fazit: Da ist "Luft nach oben".
Herr Dr. Schillinger, wie steht‘s um die Krebs-Früherkennung in Deutschland?
Dr. Schillinger: Das kann man so pauschal nicht beantworten. Es gibt große Erfolge hinsichtlich der Wirksamkeit von Krebs-Früherkennungsuntersuchungen. Gleichzeitig wünschte man sich eine größere Beteiligung. So ist etwa die Darmkrebs-Früherkennung durchaus eine Erfolgsgeschichte. Durch eine Darmspiegelung, die sogenannte Koloskopie, können sogar Vorformen des Krebses, die Adenome, erkannt und entfernt werden. Der Krebs wird nicht nur früh erkannt, sondern kann sogar verhindert werden. Die Auswertung von Registerdaten zur Darmkrebs-Früherkennung ergab, dass mit dem Koloskopie-Screening in den ersten zehn Jahren 180.000 Dickdarmkarzinome verhindert werden konnten, das entspricht einer ersparten Darmkrebserkrankung bei 28 Untersuchungen. Wenn man auswerten möchte, wie viele Menschen die Darmspiegelung des gesamten Dickdarms wahrnehmen, muss man beachten, dass die Früherkennungs-Koloskopien auch in dem für die Früherkennung vorgesehenen Alter nur einen Teil der Untersuchungen ausmachen. Koloskopien werden überwiegend als diagnostische Darmspiegelung zur Abklärung von Beschwerden abgerechnet – und werden dann in der Regel nicht nochmals für ein Screening wiederholt.
Und wo ist der Haken?
Dr. Schillinger: Die AOK-Datenanalyse zeigt, dass insgesamt nur 41 Prozent der Männer und 45 Prozent der Frauen in der hierfür vorgesehenen Zeit, also in den 10 Jahren bis zum Alter von 65 diese Untersuchung auch wahrgenommen haben. Nimmt man noch eine einigermaßen regelmäßige Inanspruchnahme des alternativ angebotenen Tests auf verborgenes Blut im Stuhl dazu, kommt man bei den Männern auf 46 Prozent und bei den Frauen bis 65 Jahre auf 55 Prozent, die in den letzten zehn Jahren durch die Darmkrebs-Früherkennung erreicht worden sind. Hier ist also noch viel Luft nach oben: Könnte man mehr Menschen motivieren, so könnten noch viel mehr Darmkrebserkrankungen verhindert werden. Eine Hoffnung ist, dass das neu eingeführte Einladungswesen hilft, die Teilnahmeraten zu steigern.
Vor genau 50 Jahren, 1971, startete mit der Einführung der Untersuchung auf Gebärmutterhalskrebs die Krebsfrüherkennung in Deutschland. Zählt diese Untersuchung auch zu den Erfolgsgeschichte?
Dr. Schillinger: Diese Untersuchung ist ein Paradebeispiel dafür, was Krebsfrüherkennung leisten kann, wenn viele, am besten alle, mitmachen. 1971 war der Gebärmutterhalskrebs mit 16.000 Neuerkrankungen pro Jahr in Deutschland noch der häufigste bösartige Tumor von jungen Frauen. Die Neuerkrankungsrate konnte inzwischen auf 4.600 und damit fast auf ein Viertel reduziert werden. Dreimal höher ist die Zahl der in den Krebsregistern erfassten fortgeschrittenen Krebs-Vorstufen, die fast ausschließlich im Rahmen der Früherkennung erkannt und entfernt werden, bevor sie sich zu einer Krebserkrankung entwickeln. Für den Erfolg dieser Früherkennung dürfte entscheidend sein, dass über 80 Prozent der Frauen im Alter von 29 bis 40 Jahren in mindestens drei von zehn Jahren teilgenommen haben. Diese Frequenz entspricht auch den Empfehlungen der evidenzbasierten Europäischen Leitlinie.
In diesen fünf Jahrzehnten sind eine ganze Reihe Untersuchungen dazu gekommen. Was sind die größten "Sorgenkinder"?
Dr. Schillinger: Bei den Männern ist es vor allem die Untersuchung auf Prostatakrebs, die gleichzeitig mit der Gebärmutterhalskrebs-Früherkennung eingeführt wurde. Sie soll ab 45 Jahren jährlich erfolgen. Profitieren würden vor allem Altersgruppen zwischen 45 und 70 Jahren, bei denen ein viel größeres Risiko besteht, dass ein Prostatakrebs während ihres Lebens zu ernsthaften Problemen führt. Aber gerade bei diesen jüngeren Männern ist die Teilnahme sehr gering. Nur knapp jeder dritte Mann, der im Jahr 2020 54 bis 70 Jahre alt wurde, nahm zumindest in drei der zehn Jahre an dieser Untersuchung teil, bei den über-70-jährigen war es knapp jeder zweite.
Noch geringer ist die Zahl der Menschen, die von der Hautkrebsfrüherkennung erreicht werden. In vier von zehn Jahren nehmen gerade einmal 16 Prozent der Frauen und 13 Prozent der Männer zwischen 45 und 70 Jahren teil.
Die jetzt vorgelegten Daten zu den Teilnahmeraten sind nicht die ersten. Was macht die Analyse des WIdO so aussagekräftig?
Dr. Schillinger: Es gibt es einige Daten. Das ist richtig. Dabei handelt es jedoch sich meist um Querschnittserhebungen, also um Auswertungen, wie viele Menschen in einem Jahr teilnehmen. Aus diesen Daten kann man aber nicht sehen, ob die einen immer und die anderen nie hingehen oder ob es eine große Gruppe gibt, die zwar teilnimmt, aber nicht ganz so regelmäßig, wie vorgesehen. Daneben gibt es Befragungsstudien, die zwar die Regelmäßigkeit der Teilnahme abfragen können, aber dafür andere Nachteile haben – zum Beispiel sozial erwünschte Antworten oder Missverständnisse bei den Befragten.
Das WIdO hat daher die Teilnahme der anspruchsberechtigten AOK-Versicherten im Längsschnitt von zehn Jahren untersucht und bei der Darmspiegelung auch die diagnostischen Darmspiegelungen bei Fachärzten und in Krankenhäusern eingeschlossen. Mit den Daten, wie viele der Versicherten in diesen zehn Jahren die Krebs-Früherkennungsuntersuchung wie häufig wahrgenommen haben, lässt sich eine recht gute Aussage über die Regelmäßigkeit der Teilnahme treffen.
Was hält Menschen trotz der offensichtlichen medizinischen Erfolge immer noch davon ab, Angebote der Krebsfrüherkennung wahrzunehmen?
Dr. Schillinger: Nun ja, das kennen Sie vielleicht aus eigener Erfahrung: Die Untersuchungen sind teilweise unangenehm und schambehaftet. Das kostet etwas Überwindung. In der Corona-Pandemie hat sicherlich auch die Angst vor Ansteckung eine Rolle gespielt. Das legen zumindest die Ergebnisse einer aktuellen Versichertenbefragung nahe.