
Selbsthilfe
Mehr Gesundheitskompetenz: Die AOK setzt dabei auf die Selbsthilfe

(04.12.17) 54 Prozent der Menschen in Deutschland haben eine eingeschränkte Gesundheitskompetenz – das zeigt eine Studie der Universität Bielefeld. Die AOK möchte das ändern und setzt dabei auf die Aktiven in der Selbsthilfe. Was leistet die Selbsthilfe bereits heute im Bereich der Gesundheitskompetenz? Was wäre darüber hinaus noch möglich und notwendig? Ließe sich durch eine bessere Vernetzung mit dem professionellen Gesundheitssystem die Gesundheitskompetenz chronisch Kranker und Behinderter – und womöglich aller Menschen in Deutschland - weiter verbessern? Mit diesen Fragen setzten sich etwa 140 Experten und Vertreter von Selbsthilfeorganisationen auf der 13. Fachtagung im AOK-Bundesverband in Berlin auseinander. Das Motto der Veranstaltung: "Selbsthilfe macht schlau".
"Es ist der große Vorteil der Selbsthilfe, dass ihre Mitglieder so dicht an den Menschen sind und damit genau wissen, was an Gesundheitskompetenz vorhanden ist und vor allem auch, wie sie vermittelt werden kann", sagte Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes, bei der Begrüßung. Zugleich müsse Gesundheitskompetenz institutionalisiert werden. So habe die Gesundheitskasse schon 2016 gemeinsam mit der Universität Bielefeld, der Robert-Bosch-Stiftung sowie der Hertie School of Governance und unter Schirmherrschaft von Gesundheitsminister Hermann Gröhe den Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz ins Leben gerufen. Die theoretischen Leitplanken, die Wissenschaftler erarbeitet haben, werden im Februar 2018 veröffentlicht, kündigte Litsch an. Um das Thema voranzubringen, unterstütze die AOK zudem die Hertie School of Governance beim Aufbau einer nationalen Koordinierungsstelle für Gesundheitskompetenz.
Aktive geben ihr Erfahrungswissen weiter

v.l.: Dr. Eva-Maria Berens und Claudia Schick
"Ich bin der festen Überzeugung, dass Selbsthilfe schlau macht", spielte Claudia Schick auf das Motto der Fachtagung an. Die Referentin für Selbsthilfe im AOK-Bundesverband erläuterte, was unter Gesundheitskompetenz zu verstehen ist: nämlich die Fähigkeit von Menschen, Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen und auf sich selbst anzuwenden. Diese Kompetenz solle den Menschen dazu befähigen, im Alltag angemessene gesundheitsbezogene Entscheidungen für sich und andere zu treffen. "In der Selbsthilfe geben chronisch Erkrankte oder ihre Angehörigen ihr Erfahrungswissen zu einer Erkrankung verständlich weiter und klären andere Betroffene über Möglichkeiten auf, mit ihrer Krankheit im Alltag umzugehen. Damit praktizieren sie genau das, was aktuell von allen Seiten als Gesundheitskompetenz eingefordert wird", sagte Schick.
"Informationsflut" macht es Patienten schwer
Trotz des Engagements der Selbsthilfe ist die Gesundheitskompetenz von chronisch Kranken derzeit eher schlechter als die der Gesamtbevölkerung. Das belegt eine Studie der Universität Bielefeld, für die im Juli und August 2014 bei einer repräsentativen Zufallsauswahl insgesamt 2.000 Menschen befragt wurden, darunter 500 chronisch Kranke. Wissenschaftlerin Dr. Eva-Maria Berens präsentierte zentrale Ergebnisse. Danach finden es etwa 70 Prozent der chronisch Kranken schwer, verlässliche Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen und anzuwenden. Insbesondere ältere Menschen haben Schwierigkeiten, mit Gesundheitsinformationen umzugehen. Etwa 63 Prozent der Befragten empfinden die Krankheitsbewältigung als sehr schwierig. "Das liegt allerdings auch daran, dass viele Erkrankungen sehr komplex sind und Patienten mit einer Flut von Informationen konfrontiert werden", erklärte Berens. Hauptanlaufstelle für Informationen über Beschwerden und Krankheiten ist laut Studie bei chronisch Kranken der Hausarzt (89 Prozent), gefolgt von Fachärzten (50 Prozent). Allerdings gaben 63 Prozent der befragten chronisch Kranken an, die Erklärungen der Fachärzte nicht richtig verstanden zu haben, 51 Prozent hatten Probleme mit Erläuterungen des Hausarztes.

Dr. Dominique Vogt
Die Folgen einer niedrigen Gesundheitskompetenz reichen von einem schlechteren subjektiven Gesundheitszustand und ungesünderen Verhaltensweisen über häufigere Arztkontakte und Krankenhausaufenthalte bis hin zur häufigeren Nutzung des ärztlichen Notfalldienstes. "Die Professionellen im Gesundheitswesen müssen die Informationen besser vermitteln", forderte Berens.
Lücken in der Forschung schließen
Dr. Dominique Vogt von der Hertie School of Governance stellte die neu gegründete Nationale Koordinierungsstelle Gesundheitskompetenz vor, die sie leitet. Aufgabe der Koordinierungsstelle ist, Forschungsergebnisse und Erfahrungen aus Projekten zu sichten, aufzubereiten und weitere Forschung anzuregen. "Bislang gibt es noch viele Lücken bei der Forschung", sagte die Gesundheitswissenschaftlerin. Außerdem will die Koordinierungsstelle Aktivitäten vernetzen, koordinieren und anregen, Akteuren einen Erfahrungsaustausch ermöglichen sowie Anlaufstelle rund um den Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz sein. Die Stärkung der Gesundheitskompetenz sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, bei der die Selbsthilfe eine wichtige Rolle spiele, betonte Vogt.
Kriterien für qualitätsgeprüfte Informationen
Während der Fachtagung stellten Experten auch Best-Practice-Ansätze aus der Selbsthilfe vor. Sandra Knicker, Selbsthilfebeauftragte und Leiterin des Patienten-Informations-Zentrums (PIZ) am Klinikum Bielefeld, informierte über ihre Arbeit. Seit zehn Jahren berät sie im PIZ Patienten, Angehörige und Interessierte und vermittelt ihnen, wie und wo sie qualitätsgeprüfte Informationen über Krankheitsbilder, Diagnosen, Therapiemöglichkeiten sowie Unterstützungsangebote unter anderem bei Selbsthilfegruppen finden können. "Die Patienten möchten ihr Wissen erweitern, um auf Augenhöhe mit Ärzten und Pflegekräften reden zu können", schilderte Knicker ihre Erfahrung.

Sandra Knicker
Vor allem an Selbsthilfegruppen und -organisationen richtet sich hingegen die Selbsthilfeakademie Nordrhein-Westfalen, die an verschiedenen Standorten in Nordrhein-Westfalen Fortbildungen für Aktive anbietet, beispielsweise zu den Themenfeldern Gesundheit, Organisation und Struktur, Kommunikation sowie interkulturelle Kompetenzen. Ziel des Angebotes ist zum einen, Selbsthilfegruppen und -organisationen zu stärken, zum anderen aber auch, die Zusammenarbeit zwischen Akteuren im Gesundheitswesen und der Selbsthilfe weiterzuentwickeln und zu festigen. "Die Selbsthilfe ist ein wichtiger Raum, in dem Patienten eine kritische Gesundheitskompetenz entwickeln können. Wir möchten daher auch das Lernen von der Selbsthilfe fördern", betonte Bernd Hoeber von der Selbsthilfeakademie NRW, die von den AOKs Rheinland/Hamburg und NordWest gefördert wird.
Mit virtuellen Angeboten Betroffene ansprechen
Die Selbsthilfegruppen die Gesundheitskompetenz ihrer Mitglieder stärken, schilderte Frank Michler, Vorstand der Gruppe "Jung und Parkinson“ (JuP). "Für Menschen, die ihr Zuhause oft nicht verlassen, sind neben realen Treffen auch virtuelle Angebote wichtig", erläuterte Michler. So erstellte die Gruppe 2013 zunächst eine Website, auf der die Mitglieder aktuelle medizinische Informationen finden und sich in einem Chat und in Foren austauschen können, was rege genutzt werde. "Junge Betroffene haben ganz andere Probleme als ältere, sie stehen im Beruf und haben Kinder, die versorgt werden müssen", so Michler. Um Erkrankten die schwierige Aufgabe abzunehmen, ihren mitunter noch kleinen Kindern die Diagnose erklären zu müssen, hat JuP den Zeichentrickfilm "Die JuPsons" entwickelt, der kindgerecht über die Krankheit informiert und die Eltern an dieser Stelle entlastet. Die Gruppe lädt zudem Experten ein und veranstaltet Fachsymposien. Michler zufolge sind für Betroffene aber nicht nur Informationen wichtig, um mit ihrer Erkrankung zurechtzukommen, sondern auch Einfühlungsvermögen und psychologischer Beistand. "Die Diagnose ist eine Notsituation, man denkt, dass das Leben vorbei ist." Ein Image-Video auf der Website zeigt diesen Moment der Verzweiflung. "Wir wollen andere Betroffene in diesem Moment auffangen und ihnen sagen, dass das Leben weitergeht und trotzdem lebenswert ist“, sagte Michler.
Bei der anschließenden Podiumsdiskussion diskutierten Experten und das Publikum über die Frage "Was hat Selbsthilfe mit Gesundheitskompetenz zu tun?". Dabei vertrat Karin Stötzner, Patientenbeauftragte des Landes Berlin, die Ansicht, dass es in erster Linie Aufgabe der Profis im Gesundheitswesen sei, Gesundheitsinformationen verständlich zu vermitteln. "Wenn Patienten ihre Erkrankung nicht richtig verstehen, liegt es daran, dass sie ihnen nicht richtig erklärt worden ist", sagte Stötzner. Laut Jutta Ahmerkamp-Böhme, Vorstand von JuP, ist Gesundheitskompetenz die Kompetenz von Patienten, im Alltag klarzukommen. Dabei könne die Selbsthilfe insbesondere chronisch Kranke unterstützen.