Bei den umgangssprachlich als Gesundheitsreformen bezeichneten Gesetzgebungen handelt es sich um regelmäßige, zumeist einmal pro Legislaturperiode des Bundestages durchgeführte Reformen der gesetzlichen Krankenversicherung und des von ihr finanzierten gesundheitlichen Versorgungssystems. Das Gesundheitswesen ist ein zu über 70 Prozent aus öffentlichen Mitteln (Sozialabgaben, Steuern) finanzierter Wirtschaftszweig, in dem strukturelle Veränderungen nicht durch marktwirtschaftliche Prozesse gesteuert, sondern von der Politik vollzogen werden. Das ist keine deutsche Besonderheit, sondern ein in allen entwickelten Volkswirtschaften geltendes Prinzip, weil der Markt eine umfassende gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung nicht sichern kann. Allerdings ist das deutsche Gesundheitswesen stärker verrechtlicht als andere vergleichbare Systeme. Daher sind bei uns auch in Detailfragen wie etwa dem Vergütungsrahmen für Ärzte und Krankenhäuser Gesetzgebungsverfahren erforderlich, wo in anderen europäischen Ländern die Regierungen oder deren nachgeordnete Behörden die Entscheidungen fällen. Hinzu kommt ein besonderer Kompromisszwang zwischen dem Bund und den Ländern, da die Länder im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung in wichtigen Bereichen des Gesundheitswesens ein Mitentscheidungsrecht haben. Da die politischen Mehrheiten im Bundestag und im Bundesrat unterschiedlich sind, sind größere GKV-Reformen oft das Ergebnis einer Zusammenarbeit der Regierungs- und der Oppositionsparteien im Bundestag (zum Beispiel GSG, GMG, PflegeVG, GKV-WSG). Hier die wichtigsten Reformgesetze für das Gesundheitswesen seit Ende der 1970er-Jahre:
- Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz (KVKG) vom 27. Juni 1977
- Schwerpunkte: Negativliste für Arzneimittel (Positivliste), erhöhte Zuzahlungen beziehungsweise Eigenbeteiligungen, grundlohnorientierte Budgetierung der GKV-Ausgaben, Wirtschaftlichkeitsprüfungen, Finanzausgleich in der Krankenversicherung der Rentner.
- Gesundheits-Reformgesetz (GRG) vom 20. Dezember 1988
- Schwerpunkte: Festbeträge für Arznei- und Heilmittel, neue GKV-Leistungen für Schwerpflegebedürftige und Gesundheitsförderung, Leistungskürzungen und Anhebungen von Zuzahlungen, Härtefallgrenze für Zuzahlungen, Transformation der RVO-Vorschriften für die GKV in das SGB V.
- Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) vom 22. Dezember 1992
- Schwerpunkte: freie Kassenwahl für alle GKV-Mitglieder ab 1996 (Krankenkassenwahlrecht), Risikostrukturausgleich (RSA) ab 1994, hausärztliche Versorgung als Gebietsbezeichnung, strikte grundlohnorientierte Budgetierung der Leistungsausgaben, neue Bedarfsplanung in der vertragsärztlichen Versorgung, ambulantes Operieren im Krankenhaus.
- Gesetz über die Pflegeversicherung (PflegeVG) vom 22. Mai 1994
- Einführung einer gesetzlichen Pflegeversicherung für alle Bürger mit drei Pflegestufen als Grundsicherung mit Geld- und Sachleistungen.
- 1. und 2. GKV-Neuordnungsgesetz (GKV-NOG) vom 23. Juni 1997
- Schwerpunkte: Ablösung der Arzneimittelbudgets der Vertragsärzte durch Richtgrößen, Einführung von Strukturverträgen in der vertragsärztlichen Versorgung, Festzuschuss für Zahnersatz ab 1998.
- Psychotherapeutengesetz vom 16. Juni 1998:
- Eigenständigkeit der psychologischen Psychotherapeuten als Mitglieder der Kassenärztlichen Vereinigungen, Ausweitung von psychotherapeutischen Leistungen.
- GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000 vom 22. Dezember 1999
- Schwerpunkte: Hausarztmodell (Hausarztzentrierte Versorgung) als Option für Krankenkassen, Ausweitung ambulanter Leistungen im Krankenhaus, schrittweise Einführung von diagnoseabhängigen Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups/DRG) für Krankenhausbehandlungen.
- Gesetz zur Reform des Risikostrukturausgleichs in der GKV (RSA-Reformgesetz) vom 10. Dezember 2001
- Schwerpunkte: Ergänzung des RSA um einen Morbiditätsbezug (morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich), Einführung strukturierter Behandlungsprogramme (DMP).
- GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) vom 14. November 2003
- Schwerpunkte: Erweiterung der Kompetenzen des Gemeinsamen Bundesausschusses, evidenzbasierte Medizin als Richtschnur für GKV-Leistungen, Gründung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG), Selbstbeteiligung der Patienten in Höhe von zehn Prozent beziehungsweise maximal zehn Euro mit Belastungsgrenze von zwei Prozent des Einkommens beziehungsweise ein Prozent für Chroniker, Praxisgebühr von zehn Euro pro Quartal, fester Apothekenzuschlag für alle Arzneimittel, Einführung von Regelleistungsvolumina in der vertragsärztlichen Versorgung.
- GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) vom 26. März 2007
- Schwerpunkte: Einführung des Gesundheitsfonds mit allgemeinem Beitragssatz und Zuschüssen aus dem Bundeshaushalt (Bundeszuschuss), Umsetzung des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs mit 80 Krankheiten, Einführung des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenversicherung, freie Fusionen von Krankenkassen, Hausarztzentrierte Versorgung als Pflichtangebot der Krankenkassen, morbiditätsbedingte Gesamtvergütung für Vertragsärzte, Flexibilisierung der Vertrags- und Versorgungsstrukturen, Zulassung von Medizinischen Versorgungszentren (MVZ), Rabattverträge zwischen Krankenkassen und Arzneimittelherstellern (Arzneimittel-Rabattverträge).
- GKV-Finanzierungsgesetz (GKV-FinG) vom 22. Dezember 2010
- Schwerpunkte: Zusatzbeiträge als feste Eurobeträge, Sozialausgleich über Beitragsabsenkung, Einfrieren des Arbeitgeberanteils auf 7,3 Prozent, Kostenerstattung als Wahltarif.
- Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AMNOG) vom 26. November 2010
- Schwerpunkte: Neuordnung der Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln, Preisverhandlungen zwischen Kassen und Herstellern auf Basis des Kartellrechts.
- GKV-Versorgungsstrukturgesetz (GKV-VStG) vom 1. Dezember 2011
- Orientierung der Bedarfsplanung in der ambulanten Versorgung an der regionalen Alters- und Morbiditätsstruktur, Förderung von Ärzten in Gebieten mit Unterversorgung, ambulante spezialfachärztliche Versorgung bei seltenen Krankheiten und Erkrankungen mit schweren Verläufen.
- Pflege-Neuausrichtungsgesetz (PNG) vom 23. Oktober 2012
- Anhebung des Beitragssatzes zur Pflegeversicherung auf 2,05 Prozent. Förderung privater Pflege-Zusatzversicherung ("Pflege-Bahr").
- GKV-Finanzstruktur- und Qualitätsweiterentwicklungsgesetz (GKV-FQWG) vom 21. Juli 2014
- Festsetzung des allgemeinen Beitragssatzes auf 14,6 Prozent ab 2015. Wegfall des seit 2005 erhobenen Sonderbeitrags der Mitglieder. Prozentualer Zusatzbeitrag, der nur von den Mitgliedern gezahlt wird. Gründung des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTiG).