Die drei großen Linien für eine bessere Pflege
Zweites Pflegestärkungsgesetz (PSG II)

13.07.15 (ams) Vor allem an Demenz erkrankte Menschen sollen von der zweiten Stufe der Pflegereform (PSG II) profitieren. Kern ist ein neuer Begriff von Pflegebedürftigkeit. Der Entwurf des Bundesgesundheitsministers Hermann Gröhe war Thema der Fachanhörung des Ministeriums am Donnerstag (9. Juli). Insbesondere die Einführung eines umfassenderen, pflegefachlich fundierten Pflegebegriffs ist eine langjährige Forderung der AOK. Der AOK-Bundesverband spricht in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf von "drei großen Linien" im PSG II. "Dazu gehören der neue Pflegebegriff sowie die Weiterentwicklung der Qualitätssicherung und der Pflegeberatung“, erläutert die Abteilungsleiterin für Pflege, Nadine-Michèle Szepan.
Darüber hinaus sei es wichtig, den gesetzlichen Anspruch auf Pflegeberatung auf Angehörige auszudehnen. Diese hätten einen ganz eigenen Beratungsbedarf, ergänzt Szepan. Profitieren würden vor allem Menschen mit gerontopsychiatrischen und kognitiven Einschränkungen, die einen besseren Zugang zu Pflegeleistungen erhielten, so Szepan. "Sie sind bislang oft im Nachteil, da der geltende Pflegebegriff ihren Bedarf an Unterstützung nicht genügend berücksichtigt."
Bereits die langjährige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt wollte einen neuen Begriff von Pflegebedürftigkeit etablieren. Auch ihre Nachfolger von der FDP, Philipp Rösler und Daniel Bahr, arbeiteten in mehreren "Pflegedialogen" an dem Thema und schüttelten die Hände vieler Experten, um die Weichen für einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff zu stellen. Erfolglos blieben sie alle drei. Erst dem amtierenden Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe von der CDU dürfte es wohl vergönnt sein, am Ende dieser Legislaturperiode die Modernisierung des Pflegebegriffs geschafft zu haben. Mit dem Entwurf für das Zweite Pflegestärkungsgesetz (PSG II) gießt die Bundesregierung den zweiten Teil ihrer Pflegereform in Paragrafen. Mit dem Ersten Pflegestärkungsgesetz (PSG I), das zum 1. Januar 2015 in Kraft getreten ist, wurden bereits neue Leistungen in der häuslichen Pflege eingeführt und bestehende Leistungen teils ausgeweitet und flexibilisiert.
Kern der nun folgenden zweiten Reform ist ein neuer Begriff von Pflegebedürftigkeit. Die aktuelle Formel gilt seit Jahren als überholt, da sie einseitig somatisch, sprich auf körperliche Gebrechen eines pflegebedürftigen Menschen ausgerichtet ist und insbesondere Demenzkranke bei den Leistungen der Pflegeversicherung vernachlässigt. An die Stelle der bisherigen drei Pflegestufen sowie dem eingeschränkten Zugang zur Pflegeversicherung für Demenzkranke (Pflegestufe 0) treten fünf Pflegegrade. Die Frage, in welchen Grad ein Pflegebedürftiger kommt und wie viel Unterstützung er anschließend erhält, wird mithilfe des neuen Begutachtungs-Assessments (NBA) festgelegt. Dieses baut auf sechs Modulen auf, die alle "pflegerelevanten Bereiche" - darunter Mobilität, kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Selbstversorgung oder Gestaltung des Alltaglebens und soziale Kontakte - erfassen sollen. Der Vorteil: Das, was der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) begutachtet, ist erheblich weiter gefasst als bislang, Pflegebedürftigkeit lässt sich umfassender berücksichtigen und leistungsrechtlich besser abbilden. Zudem läutet der NBA einen Paradigmenwechsel ein, da nunmehr der Grad der Selbstständigkeit im Alltag eines Pflegebedürftigen Maßstab dafür ist, welche Leistungen er bezieht.
Regierung sagt Bestandsschutz zu
Heutige Leistungsbezieher werden automatisch in das neue Pflegesystem übergeleitet. Dabei bekommen Pflegebedürftige mit kognitiven Beeinträchtigungen einen doppelten Stufensprung - etwa von Pflegestufe 1 in Pflegegrad 3, körperlich beeinträchtigte Pflegebedürftige einen einfachen Stufensprung - zum Beispiel von Pflegestufe 1 in Pflegegrad 2. Eine Neubegutachtung entfällt. Eine vom Pflegebedürftigen beantragte Neubegutachtung führt auch bei geringerer Einstufung nicht zur Beendigung des Bestandsschutzes. Das heißt: Es gilt lebenslang Bestandsschutz - außer die Voraussetzungen für Pflegebedürftigkeit entfallen. Zudem soll der Eigenanteil bei der Pflege und Versorgung im Heim nicht mehr wie bisher entsprechend der drei Pflegestufen steigen. Im neuen System gilt daher in den Pflegegraden 2 bis 5 ein gleich hoher, aber einrichtungsindividuell unterschiedlicher Betrag für den Eigenanteil. Derzeit bringen Heimbewohner - je nachdem, in welcher Pflegestufe sie sind - einen Eigenanteil zum Heimplatz zwischen 460 Euro und 900 Euro monatlich auf. Künftig soll der Eigenanteil laut Bundesgesundheitsministerium (BMG) bei durchschnittlich 580 Euro im Monat liegen.
Zahl der Leistungsempfänger wird steigen
Die Koalition feiert ihr Gesetzesvorhaben als umfassendste Modernisierung seit Einführung der Pflegeversicherung vor 20 Jahren. Mit der Reform kämen deutlich mehr Menschen in den Genuss von Leistungen, so Gesundheitsminister Gröhe. Alle Pflegebedürftigen erhielten künftig gleichberechtigten Zugang zu Unterstützungsleistungen der Pflegeversicherung - egal, ob sie an Demenz oder körperlichen Einschränkungen litten. Unterm Strich erwartet die Bundesregierung, dass im Zuge des neuen Begutachtungsverfahrens die Zahl der Leistungsberechtigten der gesetzlichen und der privaten Pflegeversicherung um rund 500.000 Menschen von heute etwa 2,7 Millionen auf dann 3,2 Millionen steigt.
Zur Finanzierung des PSG II sollen die Pflegebeiträge zum 1. Januar 2017 um 0,2 Prozentpunkte steigen. Die Anhebung führt laut Bundesgesundheitsministerium im Jahr 2017 zu Mehreinnahmen von rund 2,5 Milliarden Euro und bis zu 2,7 Milliarden Euro in den Folgejahren bis 2020. Dem stehen laut Referentenentwurf Mehrausgaben von rund 3,7 Milliarden Euro im Jahr 2017 und von 2,4 bis 2,5 Milliarden Euro in den Folgejahren gegenüber. Hinzu kommen Überleitungskosten in Höhe von 3,6 Milliarden Euro in den nächsten vier Jahren sowie einmalige Bestandsschutzkosten von 800 Millionen Euro. Um diese Kosten von zusammen 4,4 Milliarden Euro abzudecken, sollen die Rücklagen der Pflegeversicherung angezapft werden. Diese lagen zuletzt bei 6,8 Milliarden Euro. Gesetzlich vorgeschrieben sind 3,8 Milliarden Euro. Die Höhe des derzeitigen Beitragssatzes von 2,55 Prozent reicht laut Entwurf bis 2022. Da das PSG II frühestens zum 1. Januar 2016 in Kraft treten kann, hat die Regierung mit dem im Juni vom Bundestag verabschiedeten Präventionsgesetz bereits Vorschalt-Regelungen auf den Weg gebracht. Sie stellen sicher, dass der GKV-Spitzenverband bereits jetzt beauftragt werden kann, die Begutachtungsrichtlinie neu zu formulieren.
Reform der Qualitätsprüfungen
Mit dem PSG II soll auch das System der Qualitätsprüfungen und Qualitätsberichte reformiert werden. Laut Referentenentwurf sind bis Ende März 2017 die Instrumente für die Prüfung der Qualität der von den stationären Pflegeeinrichtungen erbrachten Leistungen und für die Qualitätsberichterstattung in der stationären Pflege zu entwickeln. Bis Ende Juni 2017 sollen die Instrumente für die Prüfung der Qualität der von ambulanten Pflegediensten erbrachten Leistungen sowie für die Qualitätsberichterstattung in der ambulanten Pflege stehen. Darüber hinaus wird die Pflegeberatung neu strukturiert und die Informationspflichten der Pflege- und Krankenkassen ausgeweitet.