Litsch: "Jedes Jahr ohne ordentliche Mindestmenge hat fatale Folgen"
Qualitätsmonitor 2019

27.12.18 (ams). Die Qualitätssicherung von Klinikleistungen wird nicht mit Nachdruck bearbeitet und umgesetzt. Diesen Vorwurf erhebt der AOK-Bundesverband. "Bei der Umsetzung der Qualitätsagenda des Krankenhaus-Strukturgesetzes ist von Entschlossenheit nichts zu merken", sagte der Vorstandsvorsitzende Martin Litsch bei der Vorstellung des Qualitätsmonitors 2019. Selbst wenn Kliniken schlechte Behandlungsqualität liefern, müssten sie kaum Konsequenzen fürchten: "Die meisten Bundesländer halten ihre schützende Hand über sie." Allein das Festschreiben von Mindestfallzahlen würde die Überlebenschancen von Patienten in vielen Bereichen deutlich verbessern. Litsch forderte die Politik auf, die Prozesse im Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) zu beschleunigen und die Qualitätsvorgaben für Kliniken verbindlich zu machen.
Bereits im Koalitionsvertrag von 2013 war die Qualitätssicherung von Kliniken thematisiert worden. Drei Jahre später folgte das Krankenhaus-Strukturgesetz (KHSG), mit dem die Implementierung von relevanten Qualitätsindikatoren festgeschrieben wurde. Die Neuentwicklung planungsrelevanter Qualitätsindikatoren werde aber bis zu zehn Jahre dauern, sagte Litsch. "Sie können also vermutlich erst 2028 Wirksamkeit in der Versorgung entfalten - 15 Jahre, nachdem die Politik das Ziel formuliert hat." Aus Litschs Sicht kommt das viel zu spät: Der GBA bewege sich "langsam wie eine Schnecke". Auch bei den Mindestmengen gehe es nicht voran. Diese Vereinbarungen sehen vor, dass Kliniken komplexe Behandlungen nur dann ausführen dürfen, wenn sie eine Mindestzahl an Eingriffen pro Jahr und somit eine gewisse Behandlungsroutine vorweisen können. Litsch wirft den Klinikvertretern und Bundesländern "eine Strategie der Verschleppung" vor, da sie die Mindestmenge zur Behandlung von Frühgeborenen unter 1.500 Gramm allenfalls stufenweise innerhalb von fünf Jahren erhöhen wollen. "Jedes Jahr ohne ordentliche Mindestmenge hat in diesem Bereich fatale Folgen für die betroffenen Kinder und ihre Eltern", sagte der AOK-Verbandschef.
Zu niedrig angesetzte Mindestmengen
Rund 11.000 Kinder kommen in Deutschland jedes Jahr zu früh auf die Welt. Jene mit einem Geburtsgewicht von weniger als 1.500 Gramm gehören zu den besonders gefährdeten Patientengruppen. "Um sie gut zu versorgen, sind spezialisierte Zentren sowie ein gestuftes Vorgehen nötig“, erklärte Professor Rainer Rossi. Der Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Vivantes Klinikum Berlin-Neukölln empfiehlt: "Je komplikationsreicher eine Schwangerschaft, desto eher sollte die Versorgung im höchstqualifizierten Zentrum erfolgen." Bei den Frühgeborenen gilt für Kliniken aktuell eine Mindestmenge von 14 Fällen pro Jahr. "Dies ist viel zu niedrig angesetzt", so Rossi. Internationale systematische Reviews zeigten, dass eine bessere Versorgungsqualität in der Geburtshilfe von der Fallzahl, der Ausstattung und dem Grad der Zentralisierung in der Geburtshilfe abhängen. Auch für Deutschland könne ein Zusammenhang von Fallzahlen und Qualitätsergebnissen nachgewiesen werden. Dies zeige auch eine Analyse auf Basis der AOK-Abrechnungsdaten, die im Qualitätsmonitor 2018 veröffentlicht ist. Demnach haben Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht von unter 1500 Gramm, die in Kliniken mit weniger als 34 Fällen behandelt werden, eine knapp 50 Prozent höhere Sterblichkeitsrate als jene, die in Kliniken mit 91 und mehr Fällen pro Jahr versorgt werden. Der Qualitätsmonitor, den das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO), der Verein Gesundheitsstadt Berlin und die Initiative Qualitätsmedizin gemeinsam herausgeben, zeigt auch auf, dass die Zahl der Frühgeburten mit einem Geburtsgewicht unter 1.500 Gramm in Deutschland von 2008 auf 2017 um 21 Prozent gestiegen ist. Die allgemeine Säuglingssterblichkeit in Deutschland liegt bei 2,3 Todesfällen je 1.000 Lebendgeburten und damit deutlich über den Werten in den skandinavischen Ländern. In Schweden beispielsweise kommt es zu nur 1,6 Todesfällen je 1.000 Lebendgeburten - und das, obwohl die dortige Gesundheitsversorgung deutlich straffer organisiert ist. Während in Deutschland insgesamt 376 Perinatal-Zentren für 760.000 Geburten zur Verfügung stehen, sind es in Schweden nur sechs Zentren für 120.000 Geburten.
Lage für Krebs- und Herzpatienten nicht besser
Jürgen Klauber, WIdO-Geschäftsführer und Mitherausgeber des Qualitätsmonitors, verwies darauf, dass Patienten in vielen Versorgungsbereichen von festgeschriebenen Mindestmengen profitieren würden. So gebe es beispielsweise in der Krebsbehandlung viel "Gelegenheitschirurgie", denn nach wie vor wagten sich auch Kliniken mit wenig Erfahrung an komplexe Krebstherapien. So führten zum Beispiel ein Viertel der 781 Brustkrebs behandelnden Kliniken in 2016 maximal acht Operationen durch. Ein weiteres Viertel operierte zwischen neun und 50 Patientinnen, im Mittel 26 Frauen - was etwa einen Eingriff alle zwei Wochen bedeutet. "Für eine gute Versorgung ist ein deutlicher Konzentrationsprozess erforderlich", betonte Klauber. Die Deutsche Krebsgesellschaft fordert für die Brustkrebsversorgung eine Mindestfallzahl von 100 pro zertifiziertem Zentrum. Patientinnen, die in Zentren behandelt wurden, hatten nach vier Jahren eine höhere Überlebensrate als Patientinnen, die anderweitig versorgt wurden. "Es leuchtet ein, dass in Kliniken mit einer Mindestfallzahl von 100, in denen heute gut vier Fünftel der Patientinnen operiert werden, eher eine eingespielte Prozesskette rund um die Operation zu erwarten ist", sagte der WIdO-Chef.
Handlungsbedarf sieht Klauber ebenso bei den Katheter-gestützten Aortenklappen-OPs, kurz TAVIs. Diese Eingriffe seien 2016 mehr als 17.000 Mal an insgesamt 97 Kliniken durchgeführt worden. Dabei versorgten etwa 30 Prozent der Häuser weniger als 100 Fälle pro Jahr. Bei diesen sei, so die Analysen des Qualitätsmonitors, die Zahl der Todesfälle im Vergleich zur erwarteten Zahl der Todesfälle um 46 Prozent erhöht. Kliniken mit mindestens 200 Eingriffen unterschreiten hingegen die erwartete Zahl an Todesfällen um 32 Prozent. "Der Handlungsbedarf, zügig eine qualitätsorientierte Krankenhausplanung aufzubauen, liegt auf der Hand", sagte Klauber. Schon mit einer Fallzahlvorgabe von 100 bei den TAVIs könnte die Krankenhaussterblichkeit gesenkt werden, deutlich besser sei eine Mindestmenge von 200 Fällen.