Lesedauer: 2.30 Minuten
Medizinsoziologe Dragano: Ungleichheit trotz egalitärem Gesundheitssystem
AOK im Dialog

v.l.: Prof. Nico Dragano (via Monitor zugeschaltet), Dr. Carola Reimann,
Maria Klein-Schmeink, Karola Schulte, Dagmar Schmidt, Sepp Müller
06.07.22 (ams). Im internationalen Vergleich ist das deutsche Gesundheitssystem egalitär und der Zugang „relativ universell. Beim Blick auf die Bevölkerungsgesundheit ließen sich dennoch „dominante Muster der sozialen Benachteiligung“ erkennen. Das sagte der Medizinsoziologe Prof. Nico Dragano vom Universitätsklinikum Düsseldorf bei der Veranstaltung „AOK im Dialog“ zur Versorgung vulnerabler Gruppen. Zugleich ergaben AOK-Befragungen, dass immer mehr Menschen in Deutschland seit der Corona-Pandemie mit der medizinischen Versorgung unzufrieden sind – vor allem die, die schon krank sind.
Studien zufolge seien vor allem Kinder aus sozial benachteiligten Familien in der Pandemie psychisch belastet gewesen, erläuterte Dragano. Es lasse sich „aber praktisch jede Diagnose nehmen, und die Wahrscheinlichkeit, dass es sozialökonomisch benachteiligte Menschen häufiger trifft, ist ziemlich groß“. „Die meisten Krankheiten stammen aus unserer Umwelt, etwa wie wir uns bewegen, welche sozialen Netzwerke, welchen Job, was wir zu essen haben“. Diese sozialen Determinanten der Gesundheit seien jedoch ungleich verteilt. Als Beispiel nannte der Soziologe die Inflation: Wenn Lebensmittel teurer würden, esse ein Geringverdiener weniger und schlechter, während jemand mit höheren Einkommen seine Ernährungsweise eher nicht anpasse. Die gesundheitliche Ungleichheit müsse sektoren- und ressortübergreifend angegangen werden, so Dragano.
Gesundheitskioske bieten niedrigschwelliges Angebot für vulnerable Gruppen
Das Thema vulnerable Gruppen sei breit gefächert, unterstrich die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Dagmar Schmidt. „Wenn wir über Zugänge reden, über Versorgung, Information und Wissen, dann umfasst das mehr als nur das Gesundheitssystem.“ Auch sozialräumliche und bildungspolitische Aspekte und die Ausbildungsfrage müssten in den Blick genommen werden. Wichtig sei, nicht nur immer von der Versorgung her zu denken, sondern viel früher anzufangen, etwa beim Zugang zu Gesundheitskompetenzen, ergänzte die Grünen-Politikerin Maria Klein-Schmeink. Da könnten Gesundheitskioske eine Möglichkeit sein, „aber auch all das, was zugehend ist, wie die Verankerung der Community Nurses“.
Darüber hinaus gebe es viele Fragen der allgemeinen Daseinsfürsorge, unterstrich Dr. Carola Reimann, Vorstandsvorsitzende des gastgebenden AOK-Bundesverbandes. Sie äußerte den Wunsch, dass die Kommunen verbindlicher unterstützen und das auch gesetzlich festgelegt werde. Unions-Fraktionsvize Sepp Müller vertrat die Ansicht: „Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem.“ Es fehlten Ärzte auf dem Land und von der Regierung erwarte er eine konzertierte Aktion, um mit den Ländern die Zahl der Medizinstudienplätze zu erhöhen.
Für die AOK ist eine gute Gesundheitsversorgung für alle, ob in der Stadt oder auf dem Land, ein zentrales gesellschaftspolitisches Thema. Regelmäßig fragt sie daher bei den Menschen nach, wie gut oder schlecht sie sich in Deutschland versorgt fühlen. Wie auch kürzlich in der Follow-up-Befragung des Forsa-Instituts im Auftrag des AOK-Bundesverbandes im Rahmen seiner Initiative „Stadt.Land.Gesund.“ Die ergab, dass die Menschen in Deutschland seit der Corona-Pandemie mit der medizinischen Versorgung wieder unzufriedener sind. Demnach sind nur noch 62 Prozent der Befragten der Ansicht, dass die Gesundheitsversorgung in ihrer Region gut oder sehr gut funktioniert. Nach der ersten Corona-Welle im Sommer 2020 waren 78 Prozent der Befragten dieser Meinung. Nur noch 78 Prozent waren bei der Umfrage im Mai dieses Jahres mit der Gesundheitsversorgung insgesamt zufrieden; im Sommer 2020 waren es noch 85 Prozent.
Vor allem Personen mit schlechtem Gesundheitszustand sind unzufrieden
Personen mit pflegebedürftigen Angehörigen oder schlechtem Gesundheitszustand sind noch einmal deutlich unzufriedener. Letztere Personengruppe bewertet die medizinische Versorgung im Jahr 2022 insgesamt um 19 Prozentpunkte schlechter als der Durchschnitt der Befragten. Auch die Gesundheitsversorgung speziell in der Corona-Pandemie wird von dieser Gruppe deutlich kritischer gesehen. Hier geben nur 58 Prozent die Noten „gut“ oder „sehr gut“. Diese Kritik wird auch an den Zufriedenheitswerten mit konkreten Angeboten wie beispielsweise der stationären Versorgung deutlich: Unter den Personen mit schlechtem Gesundheitszustand waren nur knapp 63 Prozent zufrieden mit der Krankenhaus-Versorgung. Das sind noch einmal knapp zehn Prozent weniger als im Durchschnitt.
Im Rahmen der AOK-Initiative „Stadt.Land.Gesund.“ gab es bereits zwei Vorläufer-Befragungen Anfang 2019 sowie Mitte 2020.