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„Konsequentere Ambulantisierung und eine Strukturreform könnten das Klinikpersonal nachhaltig entlasten“

ams-Interview mit Jürgen Klauber, Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO)

Foto: Jürgen Klauber, WIdO-Geschäftsführer

Jürgen Klauber

22.05.23 (ams). Deutschlands Kliniken haben Personalnöte. „Die konsequentere Ambulantisierung von Krankenhausleistungen und eine Strukturreform könnten das Klinikpersonal deutlich und nachhaltig entlasten“, sagt Jürgen Klauber, Mitherausgeber des Krankenhaus-Reports 2023 und Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO), im Interview mit dem AOK-Medienservice (ams). Darüber hinaus müsse es gelingen, Krankenhäuser als Arbeitgeber wieder attraktiver zu machen.  

Im neuen Krankenhaus-Report steht das Personal im Fokus. Warum?

Klauber: Über die Personalausstattung und die Arbeitsbedingungen in deutschen Kliniken wird ja schon lange diskutiert. Doch die Corona-Pandemie hat die Personalsituation, vor allem die Arbeitsbelastung von Pflegekräften und medizinischem Personal, nochmal verstärkt ins politische und mediale Rampenlicht gerückt. Ursachen der Belastung sind unter anderem die im Verhältnis zur Fallzahl geringere Zahl von Fachkräften, Fehlanreize durch das Finanzierungssystem und die angespannte Situation auf dem Arbeitsmarkt. Vor diesem Hintergrund analysiert der aktuelle Krankenhaus-Report 2023 umfassend die personelle Ausstattung im Krankenhaus. Dabei werden die unterschiedlichen Problembereiche betrachtet und Handlungsoptionen hin zu einer nachhaltigen und langfristig angelegten Verbesserung der Personalsituation erörtert.

Was sind die wichtigsten Erkenntnisse?

Klauber: Bezogen auf die Bevölkerung hat Deutschland im europäischen Vergleich leicht überdurchschnittlich viel Personal im ärztlichen und pflegerischen Bereich. Bezogen auf die Fallzahl zeigt sich aber, dass Ärzte und Pflegekräfte in Deutschland im Schnitt mehr Fälle versorgen müssen als ihre Kolleginnen und Kollegen in anderen europäischen Ländern. Während der Corona-Pandemie gab es zwar einen Fallzahleinbruch. Damit standen, gemessen an der Inanspruchnahme, also an den Fallzahlen und Belegungstagen, wieder mehr Ärzte und Pflegekräfte pro Fall zur Verfügung. Allerdings gab es ja gerade in den Omikron-Wellen auch viele Covid-Infektionen unter Ärzten und Pflegekräften, was diesem Effekt wieder entgegengewirkt hat.

Welche Personaltrends sind in den Krankenhäusern noch auffällig?

Klauber: Ein langfristiger Trend, der die Personalsituation in den Kliniken beeinflusst, ist natürlich die demografische Entwicklung: Durch die älter werdende Bevölkerung in Deutschland ist künftig von einer steigenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen und damit auch von einem höheren Personalbedarf auszugehen. Gleichzeitig sehen wir beim Krankenhauspersonal eine überdurchschnittliche Entlohnung im Vergleich zur Gesamtwirtschaft, einen hohen Frauenanteil und eine hohe Teilzeitquote. Außerdem gibt es bei den Berufen im Krankenhaus hohe Ausstiegsraten. So arbeiten zum Beispiel nach zwanzig Jahren nur noch 57 Prozent der Krankenschwestern und -pfleger in ihrem angestammten Beruf. Bei den Hilfskräften hat sogar mehr als die Hälfte nach zwei Jahren den erlernten Beruf gewechselt. Auf der anderen Seite haben die Kliniken große Probleme, Beschäftigte zu finden. Es gibt eine sehr geringe berufsspezifische Arbeitslosenquote – wir haben in diesem Bereich praktisch Vollbeschäftigung und der Markt für Zeitarbeitskräfte in der Pflege boomt, auch in Konkurrenz und zu Lasten der Langzeitpflege.

Während der Pandemie sind die ambulant-sensitiven Behandlungen laut WIdO zurückgegangen. Was schließen Sie daraus mit Blick auf den Personalbedarf?

Klauber: Der generelle Fallzahleinbruch in den drei Pandemiejahren 2020 bis 2022 gegenüber 2019 war mit 13 bis 15 Prozent gravierend. Bei den betrachteten ambulant-sensitiven Behandlungen, also Behandlungen, die in den meisten Fällen auch ambulant erfolgen können, lag der Einbruch sogar bei 20 bis 23 Prozent. Die Covid-19-Pandemie hat offenbar die in Deutschland dringend gebotene stärkere Ambulantisierung beschleunigt. Wir wissen ja, dass international in vielen Ländern deutlich mehr Leistungen ambulant erbracht werden. Bei manchen Diagnosen dürfte angesichts der großen und anhaltenden Einbrüche auch der Abbau von Überversorgung eine Rolle spielen.

Die Fallzahleneinbrüche bei den ambulant-sensitiven Leistungen halten Sie also für eine positive Folge der Pandemie?

Klauber: Wir müssen abwarten, ob das von Dauer ist. Aber es liegt auf der Hand, dass die konsequentere Ambulantisierung von Krankenhausleistungen zu einer deutlichen Entlastung des Personals in den Krankenhäusern führen kann. Auch mit Blick auf die Behandlungsqualität gibt es hier keine Bedenken. Die anstehende Krankenhausreform sollte also die Weichen stellen, dass die weggebliebenen Fälle nicht wieder im gleichen Umfang wie vor der Pandemie stationär behandelt werden. Allein im Bereich der ambulant erbringbaren Operationen gibt es laut Studienlage erhebliche Potenziale.

Neben der Verlagerung von Behandlungen in den ambulanten Bereich – was könnte das Klinikpersonal noch entlasten?

Klauber: Personal gewinnen und Berufsattraktivität erhöhen. Wichtig hierfür sind passende Maßnahmen des Krankenhaus-Managements. Gezielte Angebote zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf könnten beispielsweise eine verlässliche Dienstplanung, mehr Angebote für Kinderbetreuung, Wunscharbeitszeiten und mehr Mitsprachemöglichkeiten der Mitarbeitenden umfassen. Darüber hinaus braucht es mehr an Hochschulen ausgebildete Pflegende sowie Maßnahmen, um die Teilzeitquote zu erhöhen und Fachkräfte zu gewinnen beziehungsweise wieder rückzugewinnen und ausländische Arbeitskräfte anzuwerben. Abgesehen davon, dass Letzteres natürlich auch ethische Fragen aufwirft, werden solche Maßnahmen trotzdem nicht ausreichen, um das Personalproblem langfristig zu lösen. Ergänzend müssen die stationären Leistungen auf die Fälle konzentriert werden, die auch wirklich eine Behandlung im Krankenhaus brauchen.

Was heißt das konkret? Was empfiehlt der Report Krankenhäusern, um als Arbeitgeber attraktiver zu werden? Können Sie ein Beispiel für innovatives Personalmanagement nennen?

Klauber: Beispiele für innovatives beziehungsweise mitarbeiterorientiertes Personalmanagement finden Sie etwa in den sogenannten „Magnetkrankenhäusern“. Das Konzept stammt aus den USA und wird zurzeit auch in europäischen Krankenhäusern erprobt. Wesentliche Elemente sind dabei die Unterstützung durch die Vorgesetzten, Maßnahmen zur Reduzierung der Arbeitsbelastung und Weiterbildungsmöglichkeiten. Innovativ kann auch sogenannte transformationale Führung wirken, die stärker Motive, Werte und Verhalten der Mitarbeitenden in den Blick nimmt, um Motivation und Leistung zu steigern. Gleichzeitig sollen individuelle Interessen und Bedürfnisse der Mitarbeitenden besondere Beachtung und Wertschätzung erfahren.

Wie nachhaltig können diese Entlastungen sein?  

Klauber: Nachhaltig wird die Entlastung der Krankenhäuser und damit des Personals nur dann sein, wenn sie mit dauerhaften strukturellen Veränderungen in der Gesundheitsversorgung verbunden wird. Zum besseren Personalmanagement müssen also mehr Ambulantisierung, mehr Leistungskonzentration in geeigneten Zentren sowie die Reform der Notfallversorgung hinzukommen.

Lässt sich das an einem Beispiel konkreter fassen?

Klauber: Allein die Top-30-„Kurzlieger“ aus dem Katalog zum Ambulanten Operieren mit einem geringen medizinischen Schweregrad machen in Deutschland einen Anteil von vier Prozent aller Krankenhaustage aus. Dabei liegt das gesamte Potenzial aller ambulantisierbaren Operationen und Behandlungen zweifelsfrei deutlich höher. Hinzu kommen jenseits der operativen Behandlungsanlässe die schon angesprochenen ambulant-sensitiven Indikationen wie beispielsweise Herzinsuffizienz, COPD oder Diabetes, die in anderen Ländern in deutlich stärkerem Umfang ambulant versorgt werden. Bei diesem Potenzial liegt es doch gleichzeitig auf der Hand, dass eine konsequente Ambulantisierung von Krankenhausleistungen zu einer deutlichen und nachhaltigen Entlastung des Personals in den Krankenhäusern führen dürfte. Das gleiche gilt für die Leistungskonzentration. Wenn Leistungen stärker in geeigneten Kliniken mit Behandlungserfahrung und entsprechenden Fallzahlen konzentriert werden, kann eine bessere Personalallokation erfolgen. Und eine Reform der Notfallversorgung sollte dazu beitragen, dass unnötige Aufnahmen aus den Ambulanzen heraus unterbleiben. 

Wie profitieren die Patienten davon?

Klauber: Ganz einfach: Das Bündeln von Personalressourcen an gut ausgestatteten Kliniken mit viel Erfahrung und Routine in der Behandlung wirkt sich nachweislich positiv auf die Behandlungsqualität aus. Gleichzeitig könnte so das unnötige Bereithalten von Fachpersonal an Standorten mit geringer Auslastung beziehungsweise Versorgungsqualität vermieden werden. So könnten auch Komplikationen oder gar Sterbefälle verhindert und die Patientensicherheit deutlich verbessert werden.

Hierfür gibt es doch sicherlich auch aufschlussreiche Beispiele?

Klauber: Natürlich. Es werden nach wie vor zu viele Patientinnen und Patienten außerhalb onkologischer Zentren behandelt, obwohl die Studie „Wirksamkeit der Versorgung in onkologischen Zentren“ –- kurz WiZen – einen Überlebensvorteil bei Behandlung in einem von der Deutschen Krebsgesellschaft zertifizierten Zentrum für die häufigsten Krebserkrankungen belegt hat. Eine aktuelle ergänzende Analyse zeigt, dass in Deutschland jedes Jahr etwa 4.700 Sterbefälle von Krebspatientinnen und -patienten innerhalb der ersten fünf Jahre nach der Diagnose vermieden werden könnten, wenn die Versorgung aller Krebserkrankten auf die Versorgung in DKG-zertifizierten Zentren konzentriert würde. Auch für die Konzentration der Schlaganfall-Versorgung auf Stroke Units mit adäquater Ausstattung für die Versorgung von Schlaganfallen kann auf Basis der vom Innovationsfonds geförderten QUASCH-Studie ein ähnlich großes Potenzial für die Vermeidung von Sterbefällen pro Jahr abgeleitet werden.

Inwieweit kann der Krankenhaus-Report 2023 der Politik Impulse geben?

Klauber: Die Politik ist aktuell gefordert, nicht nur die Finanzierungsgrundlagen der Krankenhauslandschaft neu zu ordnen, sondern auch eine Strukturreform voranzubringen. Zentrales Problem ist die historisch gewachsene Krankenhauslandschaft in Deutschland mit ihren vielen kleinen, wenig spezialisierten Krankenhäusern. Und auch die Reform der Notfallversorgung steht noch aus. Alle benannten Reformaspekte, das Nutzen der rückläufigen Fallzahlentwicklung in und  nach der Pandemie, der Ausbau des Ambulanten Operierens, die Vermeidung unnötiger ambulant-sensitiver Krankenhausaufnahmen, die qualitätsorientierte Leistungskonzentration und die Reform der Notfallstrukturen sind mit möglichen Personalentlastungen verbunden. Die sollte jetzt bei der anstehenden Krankenhausreform beherzigt werden, der Krankenhaus-Report kann dabei behilflich sein.


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