Offenheit und Konsequenz hilft Betroffenen mehr als Wegsehen
Alkohol am Arbeitsplatz
22.06.16 (ams). Jeden Abend ein oder mehrere Bierchen zur Entspannung, häufiger mal einen "über den Durst trinken": Etwa fünf Prozent aller Beschäftigten in Deutschland hatten durch zu hohen Alkoholkonsum bereits Probleme am Arbeitsplatz, weitere fünf Prozent sind alkoholabhängig. Das schätzen Experten der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen. "Wegsehen ist der falsche Weg", sagt Sören Brodersen, Diplom-Psychologe bei der AOK. "Je früher man einem suchtkranken Menschen hilft, desto mehr kann man bewirken."
Riskanter Alkoholgenuss von Beschäftigten ist in Unternehmen ein großes Problem, das oft unterschätzt und verschwiegen wird. Doch wie erkennt man, dass jemand zu viel trinkt? Arbeitnehmer mit einem Alkoholproblem fehlen häufiger als ihre Kollegen, auch unentschuldigt. Ihre Konzentrations- und Reaktionsfähigkeit lassen nach, Leistung und Qualität ihrer Arbeit sinken, sie machen mehr Fehler und das Unfallrisiko steigt. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) spielen Alkohol und Medikamente bei jedem fünften Arbeitsunfall eine Rolle. Durch häufige Fehlzeiten, verminderte Leistung und Qualität entstehen Unternehmen hohe Kosten.
Weitere Anzeichen für ein riskantes Konsumverhalten können sein:
- Unzuverlässigkeit
- Veränderungen im Verhalten, etwa Stimmungsschwankungen oder Überreaktion auf tatsächliche oder vermeintliche Kritik
- Manche werden schnell aggressiv, andere sind sehr ruhig und ziehen sich zurück
- Körperliche Veränderungen: ungesundes Aussehen mit geröteter Haut und glasigen Augen, Körperpflege und Kleidung werden vernachlässigt, Schweißausbrüche, Schwierigkeiten mit der Artikulation
- Alkoholkonsum bei unpassenden Gelegenheiten
- Versuch, eine Alkoholfahne zu vertuschen
Problem löst sich nicht von alleine
Kollegen und Vorgesetzte scheuen sich häufig, ihren Verdacht auf Alkoholmissbrauch anzusprechen. "Sie wollen sich nicht einmischen oder hoffen, dass sich das Problem von alleine löst. Das ist aber nicht der Fall, sondern es wird meist immer schlimmer", weiß AOK-Psychologe Brodersen. Anfangs "decken" Kollegen häufig betroffene Mitarbeiter, indem sie deren Arbeit mit übernehmen. Auch die Betroffenen selbst tun alles, um ihr Problem zu vertuschen. Grundsätzlich haben Arbeitgeber die Pflicht, die Gesundheit der Belegschaft zu schützen, Gefahren abzuwenden und für Sicherheit zu sorgen. Das schreiben das Arbeitsschutzgesetz und Unfallverhütungsvorschriften verbindlich vor. Auch Führungskräfte sind für die Sicherheit ihrer Mitarbeiter verantwortlich, müssen Unfällen vorbeugen und die Leistungsfähigkeit erhalten. Diplom-Psychologe Brodersen empfiehlt Unternehmen, einen Suchtbeauftragten einzusetzen, der sich zum Thema weiterbildet. Generell sollte am Arbeitsplatz ein Nüchternheitsgebot gelten. "Sinnvoll ist auch, eine Betriebsvereinbarung abzuschließen, in der das Vorgehen im Fall von Alkoholmissbrauch klar geregelt ist", sagt Brodersen.
Fällt ein Mitarbeiter durch einen Rausch auf, darf er seine Tätigkeit nicht fortsetzen, da er sich und andere gefährden könnte. AOK-Psychologe Brodersen rät Führungskräften, in einem Verdachtsfall einen Kollegen vom Betriebs- oder Personalrat hinzuzuziehen und sich in einem längeren Gespräch einen gemeinsamen Eindruck zu verschaffen. Ein alkoholisierter Mitarbeiter sollte entweder in einem beaufsichtigten Raum im Unternehmen wieder nüchtern oder nach Hause geschickt werden - in der Regel mit einer Begleitperson und auf eigene Kosten.
Mit Verhalten konfrontieren und Hilfe anbieten
Erst wenn der Mitarbeiter wieder nüchtern ist, sollte der Vorgesetzte ein erstes Gespräch mit ihm führen. Darin sollte er ihn mit seinem Verhalten konfrontieren und unmissverständlich auffordern, nicht mehr alkoholisiert zur Arbeit zu erscheinen, gleichzeitig aber klarstellen, dass bei Bedarf Hilfe gewährt wird. Auch wenn der Mitarbeiter nicht unmittelbar durch einen Rauschzustand auffällt, ist es sinnvoll, ihm Auffälligkeiten mitzuteilen und gegebenenfalls Auflagen zu vereinbaren - etwa, eine Beratungsstelle aufzusuchen oder eine Therapie zu beginnen. Ändert sich das Verhalten nicht, sind drei bis vier weitere Gespräche notwendig, die von Mal zu Mal offizieller werden sollten. Es empfiehlt sich, sie schriftlich festzuhalten. In den weiteren Gesprächen sollten Vorgesetzte nicht nur Hilfe anbieten, sondern auch sagen, welche Konsequenzen es hat, wenn der Mitarbeiter sich weiterhin nicht an die Vereinbarungen hält. Das letzte Gespräch dient dazu, die Kündigung einzuleiten. Gleichzeitig kann vereinbart werden, dass nach einer erfolgreichen Therapie die Wiedereinstellung erfolgt.
Therapie hat Verhaltensänderung zum Ziel
"Es genügt nicht, wenn Beschäftigte in der Klinik entgiften. Eine richtige Therapie schließt daran an, dauert mehrere Monate und hat eine Verhaltensänderung zum Ziel. Dabei lernen Betroffene, in einer Welt voller Alkohol zurechtzukommen", erläutert Diplom-Psychologe Brodersen. Eine ambulante Therapie ist auch berufsbegleitend möglich.
"Kollegen und Führungskräfte sind keine Therapeuten", stellt Brodersen klar. "Doch wenn sie auffälliges Verhalten frühzeitig ansprechen, geben sie betroffenen Mitarbeitern die Chance, sich behandeln zu lassen und ihr Problem in den Griff zu bekommen."