Wenn Ängste das Leben bestimmen

Generalisierte Angststörung

29.11.16 (ams). Was ist, wenn meine Tochter ihre Arbeit verliert? Mein Mann einen Autounfall hat? Oder ich schwer krank werde? Bei Menschen mit einer generalisierten Angststörung jagt eine Angst die nächste. Oft wird die psychische Erkrankung spät oder gar nicht erkannt, ist aber mit Psychotherapie oder Medikamenten gut behandelbar.

Eine Prüfung steht bevor, der Arbeitsplatz ist unsicher, das Kind kommt nicht pünktlich nach Hause. In diesen Situationen haben die meisten Menschen Angst, die einen etwas mehr, die anderen weniger. Angst gehört zum Leben, ist sogar (lebens)notwendig: Sie sorgt dafür, dass wir nach links und rechts schauen, wenn wir eine Straße überqueren, oder dass wir uns vor gefährlichen Tieren in Acht nehmen.

"Doch bei Menschen mit einer generalisierten Angststörung sind Ängste und Sorgen nicht auf bestimmte Umgebungsbedingungen beschränkt, sondern treten in vielen alltäglichen Lebensbereichen auf und werden von Symptomen der Anspannung und körperlichen Beschwerden begleitet. Das Ausmaß der Angst schränkt das normale Alltagsleben der Betroffenen deutlich ein“, sagt Dr. Christiane Roick, stellvertretende Leiterin des Stabs Medizin im AOK-Bundesverband.

Betroffene machen sich über alles Mögliche Sorgen

Die Angststörung heißt generalisiert, weil sich die Betroffenen ständig und über alles Mögliche Sorgen machen. Dabei haben sie oft das Gefühl, die negativen Gedanken nicht mehr unter Kontrolle zu haben.

"Was ist, wenn ...? Und dann geht es los, dann kreisen meine Gedanken in meinem Kopf“, berichtet eine Angstpatientin. „Ich bin mit dem einen noch nicht fertig, da ist schon der nächste dran. Und immer so weiter." Die häufigsten Befürchtungen beziehen sich auf das Wohlbefinden der Familie, auf die Arbeit, die finanzielle Lage oder die Gesundheit, aber auch kleinere Begebenheiten können Ängste auslösen, etwa die Frage, warum die Nachbarin nicht gegrüßt hat.


Sendefähige Radio-O-Töne mit Dr. Christiane Roick, stellvertretende Leiterin des Stabs Medizin im AOK-Bundesverband

Was ist eine generalisierte Angststörung?

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Was sind mögliche Ursachen?

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Dieser ständige Alarmzustand ruft auch körperliche Symptome hervor: Die Muskeln sind verspannt, das Herz schlägt schneller, die Hände zittern, der Mund ist trocken. Auch Schwitzen, Schwindel, Bauchschmerzen und Atembeschwerden können auftreten. Oftmals kommen Schlafstörungen und Konzentrationsschwierigkeiten dazu. "In der Folge versuchen viele Betroffene, als gefährlich wahrgenommene Aktivitäten zu vermeiden oder sich durch Anrufe rückzuversichern, dass es ihren Angehörigen gut geht. Dadurch schränkt sich das Leben der Betroffenen weiter ein", berichtet AOK-Ärztin Roick.

Menschen mit generalisierten Ängsten stoßen in ihrer Umwelt manchmal auf Unverständnis oder werden gar aufgefordert, sich nicht so anzustellen. Eine generalisierte Angststörung ist jedoch eine ernsthafte psychische Erkrankung. Etwa fünf Prozent der Menschen entwickeln im Laufe des Lebens diese Störung, die meisten in den mittleren Lebensjahren. Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer.

Zur Entstehung der Angststörung tragen sowohl biologische als auch psychologische Faktoren bei. Menschen mit dieser Angststörung reagieren sehr sensibel auf Reize. Sie fühlen sich unsicherer in der Welt, eventuell auch, weil ihnen eine sichere Bindung zu Eltern oder anderen nahen Bezugspersonen in der Kindheit fehlte. Sie haben womöglich traumatische Ereignisse durchlebt, waren oder sind großem Stress in der Familie oder einer großen Arbeitsbelastung ausgesetzt. Auch fehlerhafte Lernprozesse können zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Angst beitragen. Da generalisierte Angststörungen familiär gehäuft auftreten, spielen auch genetische Einflüsse eine Rolle. Zudem finden sich bei den Betroffenen in bildgebenden Untersuchungen Auffälligkeiten in bestimmten Hirnarealen, aber auch Störungen in der Konzentration verschiedener Botenstoffe des Gehirns, die Ansatzpunkte für eine medikamentöse Behandlung bieten.

Frühzeitig den Hausarzt aufsuchen

"Es dauert oft Jahre, bis die Betroffenen professionelle Hilfe aufsuchen", weiß Roick. Häufig berichten sie dann zunächst über Schlafstörungen oder begleitende körperliche Beschwerden, sodass die zugrunde liegende Angststörung nicht immer richtig erkannt wird. Menschen, die unter generalisierten Ängsten leiden, sollten sich deshalb frühzeitig an ihren Hausarzt wenden. Zudem können sie auch bei Familien-, Frauen- oder Lebensberatungsstellen Unterstützung finden.

In der Regel gut behandelbar

"Angststörungen sind in der Regel gut mit Psychotherapie oder Medikamenten zu behandeln“, sagt AOK-Expertin Roick. Zusätzlich kann eine sportliche Betätigung zur Förderung der allgemeinen körperlichen Gesundheit unterstützend wirken. Entspannungsverfahren mindern die körperliche Anspannung. Bei den Medikamenten kommen vor allem bestimmte Antidepressiva infrage. Es kann aber einige Wochen dauern, bis sie ihre Wirkung voll entfalten. „Wichtig für die Patienten ist auch zu wissen, dass – entgegen weit verbreiteter Vorurteile – Antidepressiva nicht abhängig machen", sagt Roick.

Unter den psychotherapeutischen Verfahren ist die kognitive Verhaltenstherapie am besten untersucht. Ihre Wirksamkeit bei generalisierten Angststörungen wurde in zahlreichen Studien nachgewiesen. Die Patienten lernen dabei insbesondere ihre Sorgen und Ängste neu zu beurteilen sowie unrealistische und verzerrte Annahmen zu erkennen, zu unterbrechen und zu korrigieren. Häufige „Denkfehler“ sind „Katastrophisierungen“: Wenn beispielsweise der Partner nicht auf dem Handy erreichbar ist, befürchten Angstpatienten sofort, dass etwas Schlimmes passiert ist. Aber vielleicht hat er einfach nur sein Handy abgestellt, wie er es öfter tut? Oder hat das Klingeln überhört. Realistischere Gedanken tragen zur Beruhigung bei und helfen, Befürchtungen zu kontrollieren.

Mit angstauslösenden Situationen konfrontieren

Schließlich geht es auch darum, sich mit den angstauslösenden Situationen schrittweise zu konfrontieren. Beispielsweise die Reise, die aus Furcht vor möglichen Bedrohungen immer wieder verschoben wurde, nun doch anzutreten. Wichtig ist, dass sich die Patienten von der Therapeutin oder dem Therapeuten akzeptiert und verstanden fühlen. Dann kann sie oder er die Sicherheit bieten, die die Patienten brauchen, um sich ihren Ängsten zu stellen. Denn es gilt der Satz: "Wo die Angst ist, da geht’s lang."


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