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Alexithymie: Blind für Gefühle

Emotionen lassen sich lernen

Symbolbild von zwei Spielfiguren mit Sprechblasen

25.02.21 (ams). Die ernst gemeinte Frage "Wie geht es dir?" ist für Menschen mit Gefühlsblindheit nicht so leicht zu beantworten. Denn sie haben wenig Zugang zu ihren Gefühlen. Die "Alexithymie", so der Fachbegriff, ist keine Krankheit, aber kann das Leben kompliziert machen. Wie äußert sich dieses Phänomen? Was sind die Ursachen? Und wie kann man noch als Erwachsener lernen, die eigenen Gefühle zu "lesen"?

Manche wirken distanziert, hölzern, nüchtern oder langweilig: Menschen mit Alexithymie haben große Schwierigkeiten, Gefühle wie Traurigkeit, Wut oder Freude bei sich wahrzunehmen und zu benennen. "Das bedeutet nicht, dass sie keine Gefühle haben", sagt Dr. Astrid Maroß, Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie im AOK-Bundesverband. "Sie erleben Gefühle allerdings mehr als diffuse Erregungszustände, ohne diese einordnen oder mitteilen zu können." Betroffene könnten zum Beispiel bei Angst ein mulmiges Gefühl in der Magengegend haben, sich plötzlich schwach fühlen oder einen Druck im Kopf spüren - sie wissen diese körperlichen Empfindungen aber schlecht zu deuten und können einen Zusammenhang mit dem konkreten Gefühl weniger wahrnehmen als andere Menschen. Damit fehlt Betroffenen eine Funktion im Alltag: Wenn Menschen eigene Gefühle gut wahrnehmen und beschreiben können, hilft es ihnen enorm, zwischenmenschliche Konflikte oder stressbelastete Erlebnisse zu verarbeiten.


Radio-O-Töne mit Dr. Astrid Maroß, Ärztin im AOK-Bundesverband

Mögliche Ursachen

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Psychotherapeutische Behandlung

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Etwa jeder Zehnte ist betroffen

Der Begriff Alexithymie, der in den 1970er-Jahren von dem amerikanischen Psychiater Peter Sifneos geprägt worden ist, kommt aus dem Griechischen und bedeutet wörtlich: "Fehlen von Worten für Gefühle". Dabei handelt es sich nicht um eine Krankheit, sondern um ein Persönlichkeitsmerkmal, das bei manchen Menschen stark ausgeprägt sein kann. Klingen die Begriffe Alexithymie oder Gefühlsblindheit erst einmal exotisch, scheint dieses Phänomen in der Bevölkerung jedoch nicht so selten vorzukommen: Studien legen nahe, dass etwa zehn Prozent der Bevölkerung ihre Gefühle nicht oder nur in Ansätzen gut identifizieren können. Bei Patientinnen und Patienten, die psychotherapeutische Hilfe suchen, scheint der Anteil höher zu sein und könnte bei etwa einem Viertel liegen.

Keinen Zugang zu den eigenen Emotionen zu haben, ist ein Risikofaktor, Betroffene krank zu machen: "Sie können ihre Gefühle oft nur über körperliche Symptome, wie Bauch- oder Kopfschmerzen zum Ausdruck bringen. Beschwerden, für die die Ärzte keine eindeutige organische Ursache finden", so Medizinerin Maroß. Es können sich dauerhafte psychosomatische Beschwerden und Krankheitsbilder, wie Essstörungen, Angst- oder Suchterkrankungen, chronische Schmerzen sowie Depressionen entwickeln. Auch bei Erkrankungen wie Bluthochdruck, Rheuma, entzündlichen Darmerkrankungen, bei Magengeschwüren, Diabetes und weiteren Erkrankungen macht Alexithymie das Leben schwerer.

"Es ist schwierig, Wut in Worte zu fassen"

Psychologen und Psychiaterinnen können eine Alexithymie unter anderem mit Hilfe von Interviews und Fragebögen diagnostizieren. Die Antwort einer Betroffenen auf die Frage: "Wie ist es, sich wütend zu fühlen?" lautet dann zum Beispiel: "Nun, es ist ein Ausdruck, den ich benutze, aber in Wirklichkeit ist es schwierig, es in Worte zu fassen." Oder bei der Frage: "Wissen Sie, wie Traurigkeit ist?" heißt es: "Ja, ich glaube schon. Ich habe mich bestimmt um einige Leute gekümmert, die traurig waren." Die Antworten fallen also eher ausweichend, kurz und farblos aus, weil die Menschen mit Alexithymie das jeweilige Gefühl nicht beschreiben können. "Auffällig ist, dass Menschen mit Alexithymie auf die Frage nach konkreten Gefühlen mit Beschreibung von Körpersymptomen oder von äußeren Situationen reagieren. Manche benutzen nur ‘schlecht‘ oder ‘gut‘ als Gefühlsbeschreibung", sagt Ärztin Maroß.

Die Ursachen für diese Gefühlsblindheit sind weiterhin recht wenig erforscht. Manche Wissenschaftler vermuten frühe Kindheitserfahrungen. Eine mögliche Erklärung wäre, dass Eltern wenig feinfühlig und liebevoll auf das Baby reagiert haben, so dass das Kind nicht gelernt hat, seine eigenen Empfindungen zu deuten. Das wäre der Fall, wenn wenig emotionaler Austausch mit den Bezugspersonen stattfand. Bei Erwachsenen kann eine Traumatisierung dazu beitragen, dass das Gefühlsleben erstarrt: Die oder der Betroffene hat so viel körperliche oder seelische Gewalt erfahren, dass sie oder er "verlernt" hat, seine Gefühle wahrzunehmen, um sich vor unaushaltbaren Emotionen zu schützen.

Tipps für Angehörige

  • Sich bewusstmachen, dass der Betroffene selbstverständlich Gefühle hat, auch wenn er sie nicht deuten und zeigen kann. Er handelt nicht böswillig.
  • Erwartungen herunterschrauben. Auch wenn sich die Partner schon lange kennen: Die Person mit Alexithymie kann die Gefühle des anderen schlechter lesen.
  • Geduld haben. Eigene Gefühle immer wieder erklären und verbalisieren.
  • Bei körperlichen Beschwerden des Betroffenen: Das Gespräch suchen und nachfragen, was passiert ist und was die Beschwerden ausgelöst haben könnte.

Gefühle (wieder) lernen

Die Betroffenen sind oft belastet, auch weil sie merken, dass sie Probleme im Kontakt mit anderen haben. Denn wer seine eigenen Gefühle nicht kennt, kann auch schwerer mit anderen mitfühlen und sich in sie hineinversetzen. So wundern oder beklagen sich ihre Mitmenschen über ihr mangelndes Einfühlungsvermögen und über ihren sparsamen Gefühlsausdruck. Die emotionale Kommunikation ist reduzierter, als die meisten Bezugspersonen sie sich wünschen. Eine abweisend wirkende Art oder extreme Sachlichkeit, die wenig Zärtlichkeit zulässt, belastet Partner, Kinder und  Freundschaften. Viele Menschen mit Alexithymie versuchen sich anzupassen, indem sie Mimik und emotionale Reaktionen von den anderen kopieren, ein bestimmtes Verhalten quasi auswendig lernen. Diese Strategie wird aber von der Umwelt nicht als authentisch erlebt und führt zu weiteren Irritationen.

Eine Psychotherapie kann dabei helfen, in das Reich der Gefühle (wieder) einzutreten. Oft wird Alexithymie dort überhaupt erst festgestellt, denn zur Psychotherapie sind Patienten zunächst wegen einer psychischen oder psychosomatischen Erkrankung gekommen. Die Betroffenen sind zu einer Therapie oft bereit, denn aufgrund körperlicher Beschwerden und ständiger Konflikte liegt hinter den meisten ein langjähriger Leidensdruck. Besser mit chronischen körperlichen Beschwerden umzugehen und eine bestehende seelische Erkrankung zu lindern, sind wichtige Ziele.

"In einer Psychotherapie lernen die Betroffenen, Gefühle besser wahrzunehmen, zu differenzieren und angemessen zu verarbeiten", erklärt Maroß. "Hilfreich sind gerade erlebnisorientierte Verfahren wie eine Gruppentherapie."