#wenigerZucker
"Mit Appellen kommen wir nicht mehr weiter"
3. Zuckerreduktionsgipfel plädiert für gesetzliche Schritte gegen zu hohen Zuckergehalt in Lebensmitteln

27.10.20 (ams). Die bisherigen Ergebnisse der nationalen Reduktionsstrategie für Zucker, Fette und Salz bleiben deutlich hinter den Erwartungen zurück. Dieses Fazit zogen der AOK-Bundesverband, der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) und die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) am 27. Oktober anlässlich des dritten Zuckerreduktionsgipfels. Die drei Verbände forderten die Politik dazu auf, über gesetzliche Vorgaben wie etwa einer Softdrink-Steuer auf zuckerhaltige Getränke. "Jetzt braucht es weitere verbindliche Instrumente", sagte der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch.
Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) lehnt gesetzliche Obergrenzen für den Anteil von Salz, Fett und Zucker in Fertiggerichten bisher ab. Sie setzt auf freiwillige Vereinbarungen von Lebensmittelindustrie und -handel. Die von der Bundesregierung im Dezember 2018 nach jahrelangem Vorlauf gestartete "Nationale Reduktions- und Innovationsstrategie" sieht vor, dass der Anteil der Dick- und Krankmacher im Essen durch freiwillige Selbstbeschränkung der Hersteller bis 2025 nach und nach abnimmt. Das dem Landwirtschaftsministerum (BMEL) unterstellte Max-Ruber-Institut für Ernährung und Lebensmittel (MRI) ist damit beauftragt, die Entwicklung durch ein „engmaschiges Produktmonitoring“ zu überprüfen. Von den Ergebissen der wissenschaftlichen Begleitung hängt es laut Klöckner ab, "ob Bedarf zur Nachsteuerung oder weiterer Handlungsbedarf besteht".
Renate Künast, von 2001 bis 2005 selbst Bundesernährungsministerin, kann dieser Strategie wenig abgewinnen. "Die Wissenschaftler sollen überprüfen, ob die Industrie Werte einhält, die sich selbst gegeben hat", kritisierte die ernährungspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag beim 3. Deutschen Zuckerreduktionsgipfel des AOK-Bundesverbandes am 27. Oktober in Berlin.
Bei der Corona-bedingt im Digitalformat durchgeführten Veranstaltung stellte MRI-Präsident Prof. Pablo Steinberg die Ergebnisse des ersten Produktmonitorings vor. Danach haben die Produzenten den Zuckeranteil in Joghurts, Quarkzubereitungen, gesüßten Getränken und Frühstückscerealien in den vergangenen zwei Jahren zum Teil signifikant gesenkt. Dies treffe besonders auf Kinderprodukte zu. "Wir sind auf dem richtigen Weg, sagte Steinberg. Doch der Weg sei noch lang: „In Finnland wurde vor 20 Jahren die Salzreduktion eingeführt. Erst jetzt ist dort die Sterblickkeit signifikant reduziert."
Klöckners Parlamentarischer Staatssekretär, Hans-Joachim Fuchtel (CSU), kündigte in einem Videostatement an, dass das BMEL neben weiteren Kinderprodukten jetzt auch die "Verpflegung außer Haus" - zum Beispiel Essen im Restaurant oder im Schnellimbiss - in das Produktmonitoring einbeziehen wolle. Ende 2021 werde der erste Zwischenbericht zur Reduktionsstrategie vorliegen. Die Ministerin sei zudem bereit, "deutliche und konkrete Zeichen zu setzen", betonte der Staatssekretär mit Hinweis auf das seit Mai 2021 geltende Zucker- und Süßmittelverbot für Säuglings- und Kleinkindertees. Zudem fördere das BMEL die Forschung zur Reduzierung von Zucker, Fett und Salz "in vielen traditionellen Rezepturen" und viele Projekte für mehr Ernährungskompetenz. Dabei sei die AOK ein wichtiger Partner.
Der Vorstandschef des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch, machte jedoch keinen Hehl aus seiner Unzufriedenheit mit den bisherigen Ergebnissen der "Nationalen Reduktions- und Innovationsstrategie". Sie seien deutlich hinter den Erwartungen zurückgeblieben. "Die Weltgesundheitsorganisatin empfiehlt einen Zuckerkonsum von höchstens 50 Gramm am Tag. In Deutschland sind wir immer noch fast beim Doppelten", so Litsch. Besorgnis erregend sei weiterhin der Softdrink-Konsum: "Kinder und Jugendliche trinken im Durchschnitt bis zu einem halben Liter zuckergesüßte Erfrischungsgetränke pro Tag. Im Europavergleich liegt Deutschland damit auf dem dritten Platz."
Künast: "Wir müssen die Kinder schützen und nicht die Konzerne"
Gemeinsam mit dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) und der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) fordert der AOK-Bundesverband deshalb wirkungsvollere Maßnahmen gegen zu viel Zuckerkonsum. "Wenn wir die gesundheitlich bedenklich hohen Zuckerzusätze senken wollen, kommen wir mit Appellen nicht mehr weiter", stellte Litsch fest. Die drei Verbände plädieren für ein gesetzlich verankertes Werbeverbot für überzuckerte und sehr kalorienreiche Kinderlebensmittel und für eine Herstellerabgabe auf zuckergesüßte Erfrischungsgetränke*. Unterstützt werden diese Forderungen auch von Renate Künast, die sich in der Diskussion für "verpflichtende Reduktionsziele auf wissenschaftlicher Basis“ stark machte: "Wir müssen die Kinder schützen und nicht die Konzerne." Die Grünen-Politikerin machte sich außerdem für einen verpflichtenden Nutri-Score auf EU-Ebene stark. Die Nährwert-Kennzeichnung mit dem fünfstufigen Buchstaben- und Farbsystem von Grün bis Rot ist seit Anfang November auch in Deutschland gesetzlich erlaubt. "Aber bei einer freiwilligen Lösung macht ein Hersteller das Kennzeichen doch nur drauf, wenn er sich im grünen Bereich befindet", kritisierte Künast.
Fünf EU-Staaten und das Vereinigte Königreich haben inzwischen Steuern auf zuckerhaltige Getränke eingeführt. Aus Sicht von DDG-Präsidentin Prof. Monika Kellerer hat besonders Großbritannien "eindrucksvoll bewiesen, welche Erfolge man gerade bei Softdrinks mit steuerlichen Anreizen erreichen kann". Nach der 2018 eingeführten zweistufigen Steuer auf Getränke mit einem Zuckergehalt bis fünf Gramm und über acht Gramm pro 100 Milliliter sei der durchschnittliche Zuckergehalt in Erfrischungsgetränken auf der Insel um etwa 34 Prozent auf 2,9 Gramm pro 100 Milliliter zurückgegangen.
Dagegen sieht das bisherige Ergebnis der deutschen Reduktionsstragie mau aus: Der Zuckergehalt regulärer Limonaden ist laut AOK-Bundesverband von im Schnitt 9,08 Gramm auf 8,92 Gramm pro Milliliter gesunken und damit um gerade einmal 0,16 Gramm oder zwei Prozent. Ähnlich sehe es bei Cola- und Colamix-Getränken aus. "Wir sprechen hier in der Breite über Reduktionen im homöopathischen Bereich. Erforderlich ist eine Senkung um mehrere Gramm, nicht Milligramm", betonte Martin Litsch.
Rein rechtlich sei eine „Zuckersteuer“ auch in Deutschland kein Problem, erläuterte der online zugeschaltete Vorsitzende Richter am Bundesfinanzhof, Prof. Harald Jatzke: "Das hängt vom politischen Willen ab." Gegen eine nationale Verbrauchssteuer, zumal wenn sie als gesundheitspolitisch motivierte Lenkungssteuer definiert werde, gebe es weder verfassungs- noch EU-rechtliche Bedenken. Als Beleg für die lenkende Wirkung verwies Jatzke auf die in der Amtszeit von Renate Künast eingeführte "Alkopop"-Steuer: "Das Steueraufkommen ist von zehn Millionen Euro im Jahr 2005 auf rund eine Million im Jahr 2019 gesunken."
Die Verwendung der Alkopop-Steuer ist gesetzlich geregelt: Das Geld fließt in die Prävention. Das sollte auch bei einer möglichen Zuckersteuer so sein, schlägt BVKJ-Vizepräsidentin Dr. Sigrid Peter: "Die durch eine Steuer generierten Einnahmen könnten zweckgebunden beispielsweise in den Schulsport oder in eine gesunde Gemeinschaftsverpflegung in Kitas und Schulen investiert werden."
Fußnote zum Thema Zuckersteuer
* Die Arbeitgebergruppe im Aufsichtsrat des AOK-Bundesverbandes hat sich abweichend gegen eine „Zuckersteuer“ ausgesprochen.

Präsentation Prof. Dr. Pablo Steinberg
Präsident des Max-Rubner-Instituts

Präsentation Prof. Dr. Harald Jatzke
Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof
99 Prozent der Kindercerealien enthalten zu viel Zucker
So gut wie alle Frühstückscerealien für Kinder erhalten mehr Zucker als von der Weltgesundheitsorganisation WHO empfohlen. Das ist das Ergebnis einer Studie der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) im Auftrag des AOK-Bundesverbandes. Notwendig seien jetzt "wirksamere und vor allem verpflichtende Reduktionsziele, die nicht erst in fünf Jahren umgesetzt sind", fordert der Präventionsexperte im AOK-Bundesverband, Dr. Kai Kolpatzik, bei der Präsentation der Studienergebnisse am Mittwoch (1. April). Es gehe darum, "die jüngere Generation vor Adipositas und anderen ernährungsbedingten Krankheiten zu schützen", so Dr. Sigrid Peter, Vizepräsidentin des Berufsverbandes für Kinder- und Jugendärzte.
süß war gestern - 2. Deutscher Zuckerreduktionsgipfel am 17. Oktober 2018
Der individuelle Zuckerkonsum in Deutschland liegt deutlich über der Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation - mit weitreichenden Folgen für die Gesundheit. Gesunde Rahmenbedingungen und eine gute Ernährungskompetenz sind notwendig, um den Zuckerverbrauch der Bevölkerung zu reduzieren.
Nach dem erfolgreichen Auftakt im Jahr 2017 hatte der AOK-Bundesverband am 17. Oktober 2018 zum 2. Deutschen Zuckerreduktionsgipfel eingeladen, um gemeinsam mit Vertretern aus Politik, Wissenschaft, Gesundheitsverbänden, Lebensmittelindustrie und -handel über die nächsten Schritte einer gesamtgesellschaftlichen Strategie zur Zuckerreduktion in Deutschland zu diskutieren. Unter den Teilnehmern unter anderem: Bundesernährungsministerin Julia Klöckner und der renommierte US-amerikanische Wissenschaftler und Arzt Robert H. Lustig.
Zum Auftakt der Veranstaltung hat der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch, gemeinsam mit dem SPD-Gesundheitsexperten Prof. Karl Lauterbach in der Nähe des Veranstaltungsortes beim SonyCenter am Potsdamer Platz den ersten transparenten Supermarkt eröffnet. Dort stellte die AOK mit echtem Zucker anschaulich dar, wie viel Süßstoff tatsächlich in beliebten und gängigen Lebensmitteln steckt.
AOK-Vorstand Litsch begrüßte die Zusammenarbeit zwischen Bundesernährungsministerium und Wirtschaftsverbänden des Runden Tisches zur Absenkung des Zucker-, Salz- und Fettgehalts in Lebensmitteln. Es sei "erfreulich, dass Bewegung ins Thema kommt". Das sei ein erster Schritt, kappe aber "leider nur die Spitze des Zuckerbergs. Wir setzen darauf, dass weitere Akteure Verantwortung übernehmen und sich der von der Politik geplanten nationalen Reduktionsstrategie anschließen. Dazu gehört eine Einigung auf kurzfristig nachvollziehbare und messbare Reduktionsziele", so Litsch.
Bundesernährungsministerin Julia Klöckner nannte als Ziel, "die gesunde Wahl von Lebensmitteln zur leichten Wahl zu machen. Diesem Ziel sind wir ein ganzes Stück näher gekommen, indem es gelungen ist, mit der Wirtschaft eine Vereinbarung zu erzielen, nach der weniger Zucker, Fette und Salz in Fertignahrungsmitteln verwendet werden. Außerdem werde ich künftig Zucker und süßende Zutaten in Säuglings-und Kindertees verbieten."

Programm des 2. Zuckerreduktionsgipfels
Der Flyer zum Download
Zuletzt aktualisiert: 27.10.2020